Der erste Montag

Kann irgendein Montag der erste sein? Folgen die Montage nicht seit ewigen Zeiten in wöchentlichen Abständen, einer nach dem anderen, egal ob es Schaltjahre gibt, ob ein Feiertag auf einen Montag fällt, oder der Montag auf die Ferien fällt.

Es war der erste Montag, der zufälligerweise auf den dritten Montag eines wunderschönen Maimonates fiel, der von der Regelmäßigkeit der Montage abwich. Der Mann, der an solchen dritten Montagen regelmäßig an dem Treffen eines Männervereins teilnahm und daher erst spät in den Wiener Vorort nach Hause zurückkam, hatte beschlossen, diesmal früher nach M. zurückzukehren, um einen besonderen Abend mit seiner Partnerin zu verbringen. Sie, die nach eingeführter Gewohnheit am Nachmittag die Hunde für mindestens eine Stunde spazieren führte und zu diesem Zweck eigens eine Hundegruppe gegründet hatte, damit die jungen Hunde miteinander auf der Wiese spielen könnte, war überrascht am Telefon die Ankündigung zu hören, dass er frühzeitig nach Hause kommen würde.

Sie fragte ihn, ob sie ihn von der Bahn mit dem Wagen abholen sollte, aber er lehnte ab und bedingte sich nur aus, dass sie mit ihm noch einen Spaziergang einplanen sollte und tunlichst nicht ohne ihn etwas essen sollte.
Von der Bahn nahm er daher den Autobus und als er bei der Bushaltestelle in M. ausstieg, ging er nicht sofort nach Hause sondern direkt in Richtung Wiese, wo er eine Gruppe von Leuten stehen sah. Ein paar dunkle Flecken hüpften im Gras auf und ab. Ab und zu schossen diese Flecken auch wie kleine Pfeile vom einen Ende des Wiesenflecks an das andere, um anschließend wieder zu der Personengruppe zurückzukehren und an den Menschen hoch zu hüpfen. Das Grass war saftig, nicht zu nass und sauber. Der ausgetretene Lehmpfad war trocken und angenehm zu begehen. Als er den Anfang der Wiese erreicht hatte, schossen zwei Hunde auf ihn zu und die Hündin davon begann ihm die Hand zu lecken. Er bückte sich nieder, um den Hunden näher zu kommen, seine Partnerin kam auf ihn zu und dabei fiel ihr etwas Besonderes auf: er hatte weder Aktentasche noch die Computer-Tragetasche dabei. Er wirkte in seiner Bürokleidung zwar trotzdem etwas deplaziert, wenn man bedachte, dass alle anderen Personen sehr zweckmäßig mit Wanderschuhen und strapazierfähiger Bekleidung angetan waren. Aber zumindest war er beweglich.
Er küsste sie leicht auf den Mund, bedacht darauf, dass sie keine Intimitäten vor anderen Leuten schätzte. Dann näherte er sich der Gruppe und begrüßte die einzelnen Personen. Einer der Hundeführer zündete sich eine Zigarette an, was bedeutete, dass die Gruppe jetzt noch mindestens fünf Minuten an dem gleichen Ort stehen würden. Er entschuldigte seine Partnerin und sich mit einer Verabredung, die es notwendig machte, dass sie gleich in Richtung ihres Wohnhauses aufbrachen.

Nach der Verabschiedung überquerten sie die Wiese um anschließend einen Bach überqueren zu müssen, was einen kleinen Balanzierakt auf den in den Bach platzierten Steinen bedeutete. Wenn es trocken war, war das Überschreiten des Baches kein Problem. Wenn die Steine aber auch an der Oberseite nass und glitschig waren, musste man sehr aufpassen, dass man nicht plötzlich mit einem Bein im Wasser stand. Für die Hunde schien es immer einen großes Vergnügen, von der einen Seite zur anderen zu wechseln. Wenn sie dann auf der anderen Seite standen, schauten sie schelmisch zurück wie um zu sagen: na schaut einmal, wie ihr euch abmühen müsst.
Nach fünf Minuten kamen sie in die Gasse, in der sie wohnten. Sie bewunderte den Garten eines Nachbarn, den sie schon bei der Gartenarbeit gesehen hatte. Für ihn war das nicht so wichtig, obwohl der „Gärtner“ noch einmal eine wesentliche Rolle in seinem Leben spielte sollte. Doch das ist eine andere Geschichte.

„Warum bist du denn heute schon zuhause? Und was ist das für eine Verabredung, von der du sprichst?“ zeigte sie sich verwundert. „Die Verabredung haben wir miteinander.“ Das liebte sie nicht, unerwartete Begegnungen und Vorhaben, die nicht vorgeplant waren, bedeuteten für sie Stress. Sie hatte sich vorgenommen, einen Bericht fertig zu stellen und wäre gar nicht so unglücklich darüber gewesen, wenn erst später nach Hause gekommen wäre. „Es ist heute warm und wir können auf der Terrasse essen. Es ist noch etwas von Samstag über geblieben.“ Sie hatte nur einen Salat eingeplant, fand den Gedanken an die Auflaufreste vom Samstag aber durchaus verlockend. Der Auflauf schmeckte aufgewärmt noch besser als frisch zubereitet und ein bisschen Salat dazu war gerade ideal.

Als sie nachhause kamen, zog er sich eine einfache Hose und einen Pullover an. Er begab sich in die Küche und stellte das Backrohr an. Unterdessen deckte sie den Tisch auf der Terrasse und stellte eine Kerze hinaus. Der Maiabend war wirklich verlockend. Die Temperatur war so hoch, dass man die ganze Nacht hätte draußen verbringen können. Als der Auflauf warm war, inzwischen hatte er eine Flasche Rotwein geöffnet, brachte er die Schüssel hinaus, von den zwei Hunden tänzelnd begleitet. Der Blick der großen braunen Hundeaugen, sehnsüchtig auf die Teller gerichtet, war herzerweichend. „Nein! Platz!“ Die langausgedehnte Zurechtweisung führte dazu, dass sich die Hunde einer nach dem anderen auf die Holzplanken fallen ließen. Die Blicke waren zwar noch immer sehnsüchtig, hatten aber etwas an Resignation gewonnen.

„Also sag schon! Was ist wirklich los?“ drängte sie ihn. „Also erstens siehst Du, dass ich den Computer im Büro gelassen habe. Was sagt dir das?“ Es sagte ihr gar nichts, vom Umstand einmal abgesehen, dass er sich nicht die ganze Nacht mit Programmieren um die Ohren schlagen würde. „Aber wieso bist Du denn nicht bei deinem Verein geblieben?“
„Ich habe heute eine Entscheidung getroffen. Du kannst ihr natürlich widersprechen. Aber ich glaube nicht, dass du das tun wirst. Ich möchte mit dir sobald es deine Pläne zulassen, aber spätestens innerhalb der nächsten drei Monate mit dir zwei Wochen auf Urlaub fahren.“ Sie konnte das nicht glauben. Er war einfach kein Urlaubsmensch. Als Workaholic war er schon normal ungenießbar, wenn er das Gefühl hatte, nicht ausreichend zu arbeiten. Wie oft hatte sie ihm schon vorgeschlagen, wegzufahren, um immer wieder die gleiche Erwiderung zu bekommen, dass es gerade jetzt nicht ginge. Es war immer „gerade jetzt der Zeitpunkt“, an dem es nicht gegangen wäre. Wieso sollte das jetzt anders sein?

Er nahm einen Schluck Wein zu sich, dann ergriff er ihre Hand. „Wir haben in der Firma momentan schwere Zeiten. Leute werden in die Pension geschickt oder gekündigt. In einem Meeting sind wir heute gefragt worden, wie wir mit der Situation umgehen können. Ein Kollege hat gesagt, er musste noch nie jemanden kündigen. Er weiß nicht, wie er sich fühlen wird. Aber bestimmte Missstände berühren ihn heute nicht mehr so wie früher. Als er noch Student war, hat er einmal seine Freundin verloren, weil sie Krebs bekam. Seit damals gibt es nichts mehr, was ihm in der Firma nur annähernd so wichtig oder unangenehm erscheinen könnte.

Da ist mir plötzlich klar geworden, wie viel wertvolle Zeit ich verschenke. Zeit, die ich lieber mit dir verbringen möchte.“ Sie fragte ihn, wie er sich das denn vorstellen würde. So plötzlich würde er seinen Lebensrhythmus wohl nicht ändern können. „Du wirst mir helfen müssen.“ Sagte er. „So einfach wird es nicht gehen. Das ist klar. Gönn’ mir einen zweiten Verabredungstag, zum Beispiel den Montag.“ Er spielte darauf an, dass sie regelmäßig am Freitag etwas unternahmen. Aber am Montag wollte sie nicht ausgehen, der nächste Tag würde ein Arbeitstag sein, man müsste früh schlafen gehen und eigentlich sollte das Wochenende ja Ausspannung genug sein. Er ließ das nicht gelten. „Du verstehst mich nicht. Wir müssen nicht ausgehen. Wir nehmen uns einfach die Zeit füreinander. Wir nehmen uns vor, um sechs Uhr Abend zu essen und dann bis zehn Uhr die Zeit für uns zu verbringen. Danach gehen wir noch einmal mit den Hunden und sind noch vor Mitternacht im Bett.“ Sie schaute ihn ungläubig an. „Das endet doch nur im Sitzen vor dem Fernseher.“ – „Nein, es gibt eine Zusatzregel. Der eine muss den anderen unterhalten. Aus eigenen Stücken. Kein Fernsehen, kein Video. Kein Computerspiel.“ – Kannst Du mir ein Beispiel geben, was Du wirklich meinst?“ Er lächelte sie an: „Also heute fange ich an. Ich werde dir eine Geschichte vorlesen. Das nächste Mal bist du dran. Du kannst zum Beispiel eine Musik auflegen und mir bei jedem Stück erzählen, warum du es gut findest und was es bedeutet. Und vielleicht schaffe ich es, eine Geschichte zu erfinden oder ein Gedicht und wir können es besprechen. Ja, und es gibt noch eine Regel: die Themen Politik und Religion bleiben ausgeklammert.“ Sie fing zu lachen an. Sie hatte verstanden, dass er die Regeln seines Geselligkeitsvereins in ihre Beziehung bringen wollte. „Und Du glaubst, dass das funktioniert?“ „Ich bin sicher, dass es funktioniert. Ich kenne zwar niemanden, der es ausprobiert hat. Aber ich bin hundertprozentig sicher, dass es funktioniert. Es funktioniert unter viel schwierigeren Bedingungen bereits über hundert Jahre.“

Er schaute sie an: „Natürlich könnte man eine Erweiterung der Regeln ins Auge fassen. Der eine darf sich etwas vom anderen wünschen. Ohne Erfüllungszwang, versteht sich. Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass Du mir beim nächsten Mal etwas über unser Urlaubsziel verrätst.“
Die nächsten Montage wurden mit großer Spannung erwartet. Ein unerwarteter Umstand stellte sich ein. Die Sonntage wurden manchmal mit Geheimnistuerei begangen, weil der eine dem anderen nicht verraten wollte, was er oder sie am Montag zu erwarten hätte. Obwohl der Montag ein Arbeitstag war, wurde ein halber Urlaubstag daraus. Schon unter dem Tag wurde von einem der beiden mit großer Spannung die Überraschung des Abends erwartet.
Der Umstand, dass die Hunde jedes Mal auf ihren Spaziergang warteten, verlieh den Abenden auch einen formalen Abschluss. Obwohl die Montage ein großer Erfolg waren, mussten sie unterbrochen werden. Eines Montagabends nämlich musste sie gestehen, dass sie keine Vorbereitung hatte treffen können, weil sie durch ihre Arbeit daran gehindert war. Jetzt wäre es zwar ein Leichtes gewesen, eine Vorlesung oder einen Musikabend zu bestreiten, aber sie hatte etwas anderes im Sinn gehabt. Es war nicht Politik und es war auch nicht Religion. Die Hunde mussten allerdings länger auf ihren gewohnten Ausgang warten. Erst lange nach Mitternacht schleppte er sich zur Tür und führte sie allein um den Häuserblock.

Die nächsten Montage verliefen wie gewohnt, aber nach neun Monaten musste der Montagabend entfallen. Am Sonntag früh gab es eine plötzlich notwendig gewordene Fahrt ins Krankenhaus und Sonntag abends erblickte ein kleiner Montag (Hauptfigur von Fahrenheit 451, Ray Bradbury) das Licht der Welt. Montag, der Erstgeborene.


  1. punctum

    Die Geschichte habe ich erst vor ein paar Tagen gefunden, ich kannte sie noch gar nicht, sie gefällt mir sehr. Die Montagsidee finde ich ganz wunderbar, das Sich-füreinander-Zeit-nehmen, ganz bewusst. Muss ja nicht immer gleich eine kleine Montagüberraschung entstehen 🙂




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