Perfektion
Es geht nicht um Perfektion.
Es ist unmöglich, die Routine auf die Rasche zu erüben, die ein professioneller Pianist in Jahrzehnten gewinnt. Das geht vermutlich in keiner Disziplin so richtig. Aber das Üben an sich kann schon einen richtiger Lustgewinn bedeuten. Wie mein Vater schon sagte, Du übst so lange gerne, so lange Du eine Verbesserung feststellen kannst.
Aber was habe ich von der Verbesserung einer Stelle, wenn dafür die anderen aus Gewohnheit verhudelt oder vernachlässigt werden?
Es kommt auch darauf an, die richtigen Werke zu üben, die in der technischen Herausforderung dem Können entsprechen – oder eben gerade noch ein Stückchen höher liegen. Ein solches Opus liegt mir jetzt mit der Transkription von Franz Liszt des Liedes Widmung von Robert Schumann vor.
Ich habe gestern eine Aufnahme ins Internet gestellt, die vermutlich zumindest schwierig klingt und geschrieben, dass sich die Qualität in zwei Wochen noch stark verbessern wird. Scherzhaft hat ein Zuhörer gemeint, dass er sich das nicht vorstellen kann.
Ich hatte heute einen anstrengenden Tag, kam um acht Uhr abends nach Hause und legte mich nieder. Ich wusste, dass ich noch etwas für morgen vorbereiten musste und war darauf eingerichtet, um halb elf aufzuwachen und dann meine Arbeit zu machen. Ich wachte auf, war aber absolut unfähig, mir ein vernünftiges Arbeitsresultat vorzustellen. In solchen Fällen pflege ich zwanzig Minuten Klavier zu spielen, danach geht es dann schon wieder.
Ich fing also an, an der Widmung zu üben und stellte fest, dass bestimmte Stellen, die mir gestern schwer fielen, heute kein Problem darstellten. Dafür andere. Je besser die Sache funktioniert, desto höher werden auch meine eigenen Ansprüche. Dass das Werk technisch schwierig ist, brauche ich wohl nicht extra zu betonen. Meine eigentlichen Schwierigkeiten liegen aber in meinem Hirn. Da ich hier längere Passagen auswendig spielen muss, ist das Hirn selbst die Steuerzentrale. Sonst sind es meine Augen, da ich ja fast immer von Noten spiele. Die Augen wandern über die Noten, erfassen wesentlich größere Zusammenhänge und treiben mich in Echtzeit an.
Wenn ich auswendig spiele, habe ich manchmal noch Aussetzer, wie sie beim Herunterladen einer Songs oder eines Filmes aus dem Internet zu bemerken sind. Plötzlich gibt es eine Unterbrechung und nach einer kleinen Pause geht es weiter.
Nun die Unterbrechungen, die es gestern noch gab, fehlten heute. Es gab neue, die aber wesentlich kürzer waren und vielleicht von einem Zuhörer als gewollt angesehen werden. Was ich aber heute erreicht habe, war eine weitere Stufe: ich spielte den Text.
Das Gedicht von Rückert ist in einer Weise auskomponiert, die kaum Misverständnisse hinsichtlich der Interpretation zulässt.
Du meine Seele, du mein Herz,
du meine Wonn‘, o du mein Schmerz,
Du meine Welt, in der ich lebe,
Mein Himmel du, darein ich schwebe,
o du mein Grab, in das hinab
Ich ewig meinen Kummer gab.Du bist die Ruh, du bist der Frieden,
Du bist vom Himmel mir beschieden,
Daß du mich liebst, macht mich mir wert,
Dein Blick hat mich vor mir verklärt,
Du hebst dich liebend über mich,
mein guter Geist, mein beßres Ich!
Daher ist die Phrasierung der Musik sehr eindeutig festgelegt und die Technik darf hier keine falschen Unterbrechungen oder Verzögungen verursachen.
Beim Versuch, das Stück heute etwas besser zu spielen als gestern, sind zwei Stunden vergangen, wo mein Zeitgefühl stillgestanden hat. Das Lied dauert ungefähr vier Minuten. Also müsste ich es dreißig Mal gespielt haben. Meiner Schätzung nach waren es aber höchstens zehn Mal und ich habe bis auf wenige Augenblicke, in denen ich den Schlussteil allein wiederholt habe, immer das gesamte Lied gespielt.
Diese vier Minuten ziehen sich übrigens, wenn man auf jeder Seite zwei oder drei ganz kritische Stellen erwartet und froh ist, wenn sie einigermaßen so kommen, wie sie gewollt werden.
Was ist nun aber das Fazit des heutigen Abends?
Ich habe noch immer keine Lust zum Arbeiten, habe mir dafür aber den Wecker auf sechs Uhr gestellt. Mein erster Termin morgen ist erst um 11:00, daher kann ich da noch etwas aufholen.
- meine Augen sind schneller als mein Gehirn. Das deckt sich mit manchen Ergebnissen der Forschung in der Bildanalyse. Der Nervenstrang vom Auge zum Hirn erledigt sehr viel Vorverarbeitung, möglicherweise nutze ich hier etwas zum Analysieren des Notenbildes.
- ich stehe heute weit besser über den Schwierigkeiten als noch vor einem Tag. Das ist auch nicht ungewohnt, denn das Üben braucht immer noch etwas Zeit, sich in einem zu setzen. Das ist ähnlich wie beim Lernen, also daher keine große Überraschung.
- ich kann heute den „Text“ spielen. Könnte ich singen, würde ich ihn mitsingen, doch auch so singe ich innerlich und das funktioniert gut.
- es ist erstaunlich, wie groß der Unterschied zwischen gestern und heute ist.
- ich kann beim Klavierspielen in den Flow kommen, wie er bei Mihaly Csikszentmihalyi beschrieben ist. Das kenne ich zwar schon beim Spielen zum Vergnügen, wenn ich längere Klaviersonaten spiele, doch beim Üben ist mir das noch nicht so leicht passiert.
Ein bisschen kann ich mich in Franz Liszt hineinversetzen. Ich glaube zu verstehen, was er bei der Transkription dieses Liedes beabsichtigt hat. Ganz offensichtlich hat es ihn sehr beeindruckt.
Nachtrag: ich kann hier nur einen Link auf eine Einspielung angeben. Der Klang ist halt das, was ein Clavinova hergibt. es wird nett sein, es zu Hause auf dem Bösendorfer zu spielen.
Nachtrag: der Link zu der damaligen Aufnahme
Mittwoch, Oktober 26, 2011 at 6:15 am
…. sehr interessant zu lesen….
an Flow dachte ich auch, als ich Deine Zeilen las, und wie nicht-linear unser Lernen funktioniert.
Von meinem Urgroßvater habe ich eine alte Schellackplatte, auf der er Klavier spielt und ganz hingerissen mitsummt, an seinen Lieblingsstellen.
Ich mag das.
Mittwoch, Oktober 26, 2011 at 8:02 am
Das Mitsummen machen ja nur die ganz Großen. Gulda, Keith Jarrett, Glenn Gould, … 🙂
Donnerstag, Oktober 27, 2011 at 9:03 am
In etwas aufgehen ist, sofern wir es zulassen können, der schönste Teil des Menschseins (das geht auch ohne Mitsummen), und da sind Stunden sekundär.
Ist eigentlich irgendwann wieder einmal eine öffentliche Darbietung angedacht?
Donnerstag, Oktober 27, 2011 at 11:06 am
Momentan gibt es noch nichts Eingeplantes. Manchmal spiel ich ein oder zwei Stücke im Kammermusikverein mit, manchmal auch Solo jetzt im Liszt-Jahr. Aber es gibt noch keinen fixen Termin.
Ich bin ja schließlich kein Profi:)
Sonntag, Oktober 30, 2011 at 1:05 pm
Das Auge liefert an das Gehirn Informationen; am Weg dorthin kann nichts „vorverarbeitet“ werden, es genügt bei weitem, erst im Gehirn die Verarbeitung zu beginnen. Die paar Nanosekunden „zwischen Auge und Gehirn“ machen (wahrnehmbar) das Kraut nicht fett.
Aber das Verarbeiten der Informationen im Hirn geschieht stufenweise. Erste Informationen sind grob und überlebenswichtig, spätere Informationen verfeinern und gehen in die Tiefe. Der grobe Ersteindruck gibt oft wesentliche Informationen, die bei detaillierterer Betrachtung wieder flöten gehen, ganz ähnlich wie bei JPG-Bildern, die ja auch aus Sektoren und deren immer feineren Unterteilungen aufgebaut sind.
Montag, Oktober 31, 2011 at 1:01 am
Nun ja, die Vorverarbeitung scheint bereits viel früher zu passieren…
http://www.allpsych.uni-giessen.de/karl/teach/aka.htm
Zitat:
Analysiert man die Informationsverarbeitung des visuellen Systems auf der Ebene einzelner Neurone, stellt man fest, dass die Eingangsrezeptoren in der Netzhaut (Retina) des Auges die im visuellen Reiz enthaltene Information zerlegen, abstrahieren und in geordneter Form an die nächste Verarbeitungsstufe weiterleiten. Von der primären Sehrinde im Hinterhauptslappen (Okzipitalkortex) ausgehend scheint die kortikale Verarbeitung visueller Information über zwei Hauptpfade zu verlaufen, einem dorsalen parietalen Pfad, der zum Scheitellappen (Parietalkortex) verläuft und einem ventralen temporalen Pfad, der zum unteren Schläfenlappen (Temporalkortex) zieht (siehe Abb. 1). Während der parietale Verarbeitungsstrom der Steuerung von Handlungen bzw. der Bewegungs- und Positionswahrnehmung (daher auch „Wo-Strom“ genannt) dient, ist der temporale Strom für das Erkennen von Objekten bzw. für die Farb-, Muster-und Formwahrnehmung (daher auch„Was-Strom“ genannt) von besonderer Bedeutung (Goodale & Milner, 1992; Ungerleider & Mishkin, 1982). Die Grundlage für die funktionelle Unterteilung des visuellen Kortex in zwei Hauptverarbeitungsströme bilden psychophysische und klinische Untersuchungen an Menschen und physiologische (Einzelzellableitungen und Läsionsstudien) und anatomische Experimente an Affen.
Mittwoch, November 2, 2011 at 11:53 am
Wahrnehmung benötigt Zeit. Es ist ziemlich egal, WO die Verarbeitung geschieht, klar ist, dass sie in STUFEN über die Bühne geht (und da gehen meine Ausführungen mit dem Zitat konform). Ob ein Teil der Verarbeitung in der Retina oder (wenige Millisekunden später) im Gehirn stattfindet, bringt uns den Rätseln der Wahrnehmung nicht näher.
Mittwoch, November 2, 2011 at 4:53 pm
Bei Millisekunden wäre ich bereits vorsichtig. Es stimmt zwar, dass akustische Vorkommnisse innerhalb von 30 ms als ein Akkord wahrgenommen werden. Doch spielt die Verteilung der einzelnen Töne innerhalb dieses Zeitintervals doch eine beträchtliche Rolle, wie der Akkord empfunden wird. Da ist zwischen scheußlich bis wunderschön alles möglich. Vieles davon stellt sich beim Spielen automatisch ein, doch wenn die Kontrolle durch einen unterschiedlichen Verarbeitungsablauf nur im Millisekundenbereich gestört ist, kann das merkbare Auswirkungen haben.
Im Übrigen versuche ich nicht das Gehirn zu erklären. Das hat mich zwar früher einmal interessiert, doch inzwischen wurde soviel erforscht, dass sich viele Ergebnisse, die Ende der 70er-Jahre noch gegolten haben, heute überholt sind.
Mir geht es lediglich um das Klavierspiel und die Erarbeitung der Inhalte.
Frage: spielen Sie Klavier?
Montag, November 7, 2011 at 7:40 am
Ein wenig Klavierspielerfahrung habe ich schon. Die Skala „scheußlich“ bis „wunderschön“ ist doch eine sehr subjektive Wertelandschaft, wie mir scheint. Aus der progressiv-klassischen Musik des 20. Jahrhunderts heraus jedenfalls sind mir etliche Erfahrungen bekannt, wo die Akkorde wirken, auch wenn die Reihenfolge des Erklingens der Töne dem Spieler überlassen ist; Vorläufer dafür gibt es schon im Barok, wo in einigen Stücken nur die Akkorde hingeschrieben wurden und der Spieler sie ausführen kann, wie er mag. So gesehen also sollte man in jeder Hinsicht vorsichtig sein, vor allem bei so unscharfen Begriffen wie „scheußlich“, etc.
Übrigens ging es ja nicht um Akkorde, soweit ich mich erinnere?
Montag, November 7, 2011 at 8:28 am
Ich glaube, wir sprechen da aneinander vorbei.
Dienstag, November 1, 2011 at 4:10 pm
für mich – wobei ich mich nicht mit ihnen vergleichen möchte – war immer das wichtigste beim „auswendig üben“, dass ich die strukturen genauestens verstand ( thema 1, thema 2, durchführung, reprise – wechsel der tonarten, modulationen und so weiter … ). der olle kopp arbeitete dann diese strukturen ab, und es war kein unsicherer mechanischer vorgang, bei dem man sehr leicht mal einen aussetzer hat.
also das ding mit dem „begleitgesang“ ist gar nicht so verkehrt … glaube ich …
Dienstag, November 1, 2011 at 9:01 pm
Also die Strukturen bereiten mir keine Schwierigkeiten, ich entdecke dabei auch immer wieder kleine Einzelheiten, mit denen die Komponisten es erleichtern, Exposition und Reprise auseinanderzuhalten, um zu wissen, dass das 2. Thema jetzt in einer anderen Tonart weitergeht. Prinzipiell versagt das mechanische Auswendiglernen zumindest bei mir sowieso, weil ich in dem Moment, wenn ich keine Noten habe, auf die Tasten schaue und diese mich dann extrem verwirren.
Aber die Modulationen dermerk ich mir halt nur sehr schwer:)