Archiv für März 9th, 2022

Das Glockenspiel

Das Glockenspiel

Es gibt etwas wie Echtheitszertifikate, die heute oft in Gestalt eines fälschungssicheren Hologramms auf Geldscheinen und Software-Verpackungen aufgebracht sind. So richtig fälschungssicher sind sie mittlerweile auch nicht, aber sie erschweren das Nachmachen bis zu einem bestimmten Maße.

Bei Städten heißen diese Echtheitszertifikate Wahrzeichen. Die Stadt Wien verfügt über zwei signifikante Wahrzeichen, das Riesenrad und den Stephansdom. Über den Stephansdom, der mittlerweile über 850 Jahre alt ist, gibt es soviel zu berichten, dass man einen ganzen Abend lang andächtig den unterschiedlichen Geschichten und Merkwürdigkeiten lauschen kann, die mit seiner Entstehung und seiner Geschichte zu tun haben.

Wenigen ist die Parallelität zwischen dem Wiener Stephansdom und der Tokyoter U-Bahn bekannt.

Der Stephansdom fasste zur Zeit seiner Errichtung viertausend Menschen. Er befand sich außerhalb Wiens Stadtmauern. Die Bevölkerung von Wien betrug damals achttausend Seelen. Man könnte behaupten, dass der spätere Dom überdimensioniert war, wenn man vergisst, dass das Kirchengebäude auch Zuflucht bei verschiedenen Katastrophen bot. Die Tokyoter U-Bahn ist das einzige Bauwerk, dass bei seiner Entstehung so ausgelegt war, dass die Hälfte der Tokyoter Bevölkerung sich im Fall eines Atomangriffes in die unterirdischen Gänge flüchten konnte. Damals lagen Hiroshima und Nagasaki noch nicht einmal zwanzig Jahre zurück.

Für die hier beschriebene Begebenheit ist auch die Unterwelt Wiens von Bewandtnis. Nein nicht die Kriminellen, obwohl die auch mitspielen könnten, sondern die Fülle von unterirdischen Kellern und Gängen, die teilweise durch Ausgrabungen entdeckt wurden, teilweise durch die Erbauung der Wiener U-Bahn zusätzlich erschlossen wurden.

So gab es vor ungefähr dreißig Jahren eine interessante Möglichkeit für die Gläubigen, sich ein ganz besonderes Erlebnis im Stephansdom zu verschaffen, welches mit den Glocken von St. Stephan zu tun hat.

Wenn man an St. Stephans Glocken denkt, fällt einem die denkwürdige Pummerin ein, doch die wird nur zu besonderen Festtagen geläutet. Schon das normale Glockenwerk von St. Stephan zeichnet sich durch eine besondere Klangfarbe aus, wie auch die Orgel so berühmt ist, dass sie zu außerklerikalen Konzerten verwendet wird.

Jeden Sonntag vor dem Hochamt um zehn Uhr gab es eine kleine Auswahl von Personen, welche beim Läuten der Glocken anwesend sein durften.

Um sieben Uhr in der Früh sammelten sich die Interessenten bei einem Stiegenabgang auf der Freyung, die ungefähr einen halben Kilometer vom Dom entfernt liegt.

Sie gelangten über einen unterirdischen Gang in eine Umkleidehalle, wo sie ihre Mäntel in Spinden ablegen konnten. Gleichzeitig wechselten einige das Gewand, denn es ging nicht um eine einfache Anwesenheit, sondern die Betroffenen mussten Dienste leisten.

In der Regel waren pro Sonntag ungefähr ein Vierteltausend Personen anwesend, von denen einige immer wieder kamen, weil sie hofften in die engere Auswahl des Glockengeläutes oder – wie vermutet – des Glockenspiels zu kommen. Die Geschehnisse des betroffenen Tages werden anhand der Aufzeichnungen von Harry beschrieben, der damals den Eindruck hatte, Zeuge eines Wunders geworden zu sein. Deswegen hielt er seine Eindrücke in Tagebuchform fest, wobei aus Gründen der besseren Nachvollziehbarkeit auch einige private Vermerke mit enthalten sind. Harry war kein regelmäßiger Besucher. Er hatte zufällig von der Möglichkeit gehört und interessierte sich aus musikalischen Gründen dafür. Hier sein Originaltext.

„Natürlich hatte ich wieder verschlafen. Und das, obwohl ich rechtzeitig dort sein wollte, um die Chancen zu vergrößern, zum inneren Kreis zu gehören, doch als ich dann meine Zählkarte bekam, trug sie die Zahl 152. Ich wollte schon wieder gehen, denn es erschien mir chancenlos, mich mit einer so hohen Zahl vernünftig platzieren zu können. Das Putzen von Gerätschaften mit Sidol gehörte nicht zu dem, was ich gerne tun wollte. Trotzdem drängte ich mich in den Umkleideraum. Als ich meinen Mantel verstaut hatte, war gerade der erste Einlass in die Selektionskammer. Die Leute, die schon früher gekommen waren, versperrten gnadenlos den Weg und bildeten eine Schutzmauer gegenüber den erst später Angekommenen. Am Ende der Auswahlkammer ging eine Zutrittstür auf und es erschien ein Mitglied des Domkapitels in der Tür. Obwohl er von Statur klein wirkte, hatte er soviel Autorität, dass sich niemand an ihm vorbeidrängen wollte. Er zeigte auf einige Personen in der Menge, die sich zu ihm durchwurstelten. Ich war bass erstaunt, als ich erkannte, wer da als erste Person im Gang hinter der Tür verschwand. Es war meine Schwester. Jetzt versuchte ich alle Register zu ziehen, um nach vorne zu kommen. Irgendwie schaffte ich es, indem ich unter den Schultern zweier benachbarter Barrikaden hindurchtauchte. Ich stand vor dem violett gekleideten Bruder. Er blickte mich etwas schmunzelnd an und bedeutete mir, mich auf den Weg durch den Gang zu machen. Hinter mir verschloss er die Tür. Die Auswahl war getroffen.

Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Ich hatte gehört, dass man eine ganze Reihe von Stufen empor klettern müsste, doch als so viele erschienen sie mir gar nicht. Wir durften uns noch einmal umziehen und bekamen einen einfärbigen braunen Mantel zum überziehen. Der war nicht fehl am Platz, denn es war saukalt. Noch einmal kletterten wir einige Stufen hoch, dann waren wir im Allerheiligsten angelangt. Es war der Raum, in dem die Glocken bespielt wurden.

Meine Schwester, mit der ich damals zerstritten war, würdigte mich keines Wortes. Ihre Blicke verrieten, dass sie mich lieber woanders gesehen hätte. Ein bisschen Erstaunen war auch zu lesen, was ich denn hier überhaupt täte.

Bruder Clemens begann uns zu unterweisen. Diese Unterweisung sollte über eine Stunde dauern. Er erzählte uns, dass beim Glockengeläute ein bestimmter Trick angewendet wurde. Das Läuten wurde nicht mechanisch wie in einem Programm durchgeführt. Anstelle dessen wurde das Läuten gespielt. In dem Raum gab es eine Klaviatur, welche kürzer als bei einem Klavier war und von der Gestaltung her eher einem Cembalo entsprach. Die sogenannten ‚weißen’ Tasten waren von dunklerem Holz, die Obertasten von hellerem Holz. Außerdem gab es noch ein paar Knöpfe an der Seite, die so ähnlich wie Registerbetätigungen von Orgeln aussahen.

Bruder Clemens erklärte, dass einige der Tasten mit Verbindung zu den Glocken ausgestatten wären, sofern die richtigen Registerknöpfe betätigt wären. Waren die Glocken nicht angeschaltet, so würde man einfach ein Tasteninstrument vor sich haben, mit dem man sich die Tonhöhe und zeitliche Verzögerung der Glocken vor Augen führen könne. Erst zu diesem Zeitpunkt fiel mir auf, dass diese Verzögerung beim Anläuten der Glocken eine wesentliche Erschwernis darstellte, wenn man einen bestimmten musikalischen Eindruck erreichen wollte.

Jetzt beschäftigte sich Bruder Clemens mit meiner Schwester. Er gab ihr einen Text zu lesen, der mit einzelnen Noteninformationen versehen war. Es handelte sich um einen Psalm und der Gesang selbst hatte etwas Gregorianisches an sich. Meine Schwester musste üben, um das singen zu können. Meine eigene Neugier wuchs. Ich fragte, Bruder Clemens, wie die Glocken gestimmt wären. Lächelnd erklärte er mir, dass die Stimmung der Glocken etwas ganz besonders wären. Oft sind Kirchenglocken in Terzen oder Quarten gestimmt. Doch die Glocken von St. Stephan sind in Quinten gestimmt. Es gibt vier Quintenpaare, die darüber hinaus noch eine weitere Besonderheit aufweisen. Sie sind zueinander ziemlich atonal. f-c (klein), Gis – Dis (eingestrichen), H – Fis (dreigestrichen) und Sub-Kontra b und Kontra f, also ganz tief.

Schlägt man alle Töne am Klavier gleichzeitig an, wozu man die Hilfe eines zweiten braucht, so klingt das überhaupt nicht gut zusammen. Die Glocken von St. Stephan klingen aber zauberhaft. Was war das Geheimnis? Jetzt zeigte sich, dass Bruder Clemens mich nicht zufällig ausgewählt hatte. Ich weiß zwar nicht, woher er meine Neugier schon vorher vorausahnen konnte, doch aus der Art, wie er mir jetzt alles erklärte, merkte ich, dass es ihm große Freude machte, darüber zu reden.

Er klärte mich auf, dass es gerade diese Anordnung war, in der die Glocken als Begleitung des Psalm-Gesanges fungierten, die für die notwendigen rhythmischen Verschiebungen der Glockentöne verantwortlich war. Durch den zeitlichen Ablauf der Psalm Melodie wurden die Glocken so angestoßen, dass sich ihre Obertöne ergänzen und sozusagen eine Melodie über der Melodie entstand. Niemand hörte den Gesang, der dem Geläute zugrunde lag, doch genau dieser verursachte das Entstehen einer Stimmung, die man anders nicht zusammengebracht hatte. Von Seiten der Kirche oder der für das Geläute Verantwortlichen hatte man in den Jahrhunderten zuvor festgestellt, dass es kein mechanischer Gesang sein durfte. Am besten funktionierte es, wenn jemand den Psalm zum aller ersten Mal sang. Deswegen hatten sie dieses Geläutzeremonial für interessierte Laien überhaupt organisiert.

Während meine Schwester halblaut vor sich hinübte, schlug er ab und zu die Tasten an. Ich war wahnsinnig gespannt vor Aufregung. Wie gerne hätte ich selber gespielt. Das musste mir anzumerken gewesen sein. Schmunzelnd fragte er mich, ob ich einmal selbst versuchen wolle. Er ging zu meiner Schwester hinüber. Er fuhr mit dem Finger den Psalm ab und zeigte meiner Schwester auf diese Weise, in welchem Tempo sie zu singen hatte. Er ermunterte mich, zu begleiten. Ich tat das und offensichtlich erregte das sein Wohlgefallen. Er fragte mich, ob ich Musik beruflich ausübte und ich bestätigte es ihm. Danach wollte er noch wissen, ob ich einen bestimmten Professor an der Musikakademie kennen würde. Auch das konnte ich bejahen.

Auf einmal konnte ich eine gewisse Erleichterung erkennen, die sein Gesicht mit einem Strahlen überzog. ‚Wisst ihr was, ihr dürft heute allein läuten. Ich vertraue Euch. Ihr müsst wissen, dass ich eine kranke Schwester habe. Sie wird morgen operiert. Ich möchte ihr noch so gerne Trost zusprechen. Jeden Sonntag muss sie speziell warten, bis ich hier fertig bin, doch heute könnte ich rechtzeitig bei ihr sein. Ich vertraue euch. Wartet, ich muss noch einen Zweitschlüssel holen, damit ihr nachher wieder in den Umkleideraum kommen könnt.’

Er verschwand in Richtung Gang, durch den wir gekommen waren, kehrte aber nicht wieder. Die Zeit tropfte dahin. Es war kurz vor zehn. Jetzt sollte das Geläute anfangen.

Noch zwei Minuten warteten wir. Dann bedeutete ich meiner Schwester, sie möge anfangen. Ich spielte die Begleitung und versuchte mich nicht zu verspielen. Als ich mich etwas sicherer fühlte, zog ich das Register, mit dem die echten Glocken mit der Klaviatur verbunden wurden.

Die Glocken von St. Stephan läuteten. Später hörte ich, dass sie angeblich besonders schön geläutet hatten.

Es waren Glocken für Bruder Clemens, der auf dem Weg nach unten einen Schlaganfall erlitten hatte. Da noch einige Personen von der Putzorgie anwesend waren, gab es sofort Rettungsmaßnahmen. Er wurde gut versorgt und war nach einem Jahr wieder hergestellt. In diesem Jahr wurde ich vom Domkapitel gebeten, die Glocken zu übernehmen. Es hatte sich herausgestellt, dass es für Bruder Clemens keinen Ersatz gegeben hätte. Es erscheint wie ein Wunder, dass er gerade an diesem Tag sein Geheimnis preisgegeben hatte. Mir gegenüber hatte er überhaupt nicht geheimnisvoll gewirkt.

Meine Schwester, eine Ärztin, hatte seine Schwester nicht vergessen. Sie übernahm die Betreuung von ihr, was ihr zwar angesichts ihres eigenen Terminkalenders sehr schwer wurde aber angesichts des Vorfalls als absolute Verpflichtung erschien.

Nach einem Jahr kam Bruder Clemens zu mir, zusammen mit einem jüngeren Ordensbruder. „Bruder Leopold wird sich in Zukunft um die Glocken kümmern. Ich selber bin dafür inzwischen zu schwach. Du hast einen guten Dienst erledigt.“ Er segnete mich. Für mich war dieses Interludium eine willkommene Abwechslung gewesen und ich hatte schon geplant, eine Dissertation darüber zu verfassen. ‚Die indirekte Kontrolle von kollaborierenden Obertönen im Bereich von angeschlagenen Musikkörpern’ Doch als ich den Segen bekam, schien meine Intention wie ausgelöscht. ganz plötzlich kam ich mir wie Teil eines Wunders vor. “

Die Teilnahmemöglichkeit an St. Stephans Glockengeläute gibt es nicht mehr. Es ist nicht bekannt, wer heute den Psalm singt. Vielleicht hat man auch eine besonders gelungene Veranstaltung aufgenommen und steuert den zeitlichen Verlauf des Glockengeläutes elektronisch. Harry selbst hat eine akademische Karriere auf der Musikhochschule eingeschlagen und beschäftigt sich heute mit ekmelischer Musik. Bruder Clemens war zehn Jahre nach dem geschilderten Erlebnis friedlich eingeschlafen.

In den unterirdischen Gängen befindet sich heute ein Museum mit kirchengeschichtlichen Artefakten. In hundert Jahren wird sich niemand mehr daran erinnern. Man kann aber davon ausgehen, dass es in den achthundertfünfzig Jahren Stephansdom einige solche Erlebnisse gegeben hat.

Immerhin hat beim Bau der Kirche der Teufel seine Hand im Spiel gehabt, da ist es nur fair, dass auch gute Engel ab und zu eingegriffen  und verhindert haben, dass die Besonderheit des schönen Glockenklangs verspielt wurde.




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