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Verstehen

Es ist traurig, wenn das Verstehen immer schwerer fällt. Es ist eine Frage des Alters und der damit verbundenen Beschwerden. Ich höre schlechter. Ich bemerke, dass ich oft genau die Konsonanten missverstehe, welche Bauchredner ganz bewusst einsetzen, damit sie nicht den Mund bewegen müssen.
Dann begreife ich langsamer, was ich nicht als Nachteil empfinde. Denn das langsamere Begreifen verschafft mir Zeit, sofort mehrere Assoziationen zu finden, die sonst aus Zeitmangel nicht weiter verfolgt werden könnten.
Was mich eher schmerzt, ist das schwächelnde Sprachverständnis. Das wird jemand mit großer Sprachbegabung und regem Geist vielleicht nachvollziehen können. Im Alter von vierzig Jahren konnte ich bei einem Geschäftsessen drei Gesprächen gleichzeitig zuhören, die in drei verschiedenen Sprachen geführt wurden. Natürlich hätte ich nicht das Gesprochene wiedergeben können, doch ich konnte verfolgen, ob irgendeines der Gespräche meine unmittelbare Beteiligung benötigt hätte. Beruflich war es für mich von großem Vorteil, denn ich konnte auf diese Weise auch Vorbehalte von möglichen Kunden einigermaßen erkennen.
Fünf Jahre später war es auch noch ansatzweise möglich, selbst wenn ich japanisch wirklich nur rudimentar im Vergleich zum damals noch flüssigem Russisch verstand.
Heute fünfundzwanzig Jahre später muss ich froh sein, wenn ich zwei Gesprächen auf deutsch soweit folgen kann, dass ich nichts wesentliches verpasse. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: ich spreche von beruflichem Smalltalk bei Abendessen und Banquetten. Im Einzelgespräch konzentriere ich mich in der Regel auf den Gesprächspartner und achte mehr auf die nonverbalen Kommunikationsmerkmale.
Inzwischen ist ja das Multitasking etwas aus der Mode gekommen. Es gilt eher als ineffizient. Dieser Darstellung kann ich durchaus etwas abgewinnen. Beim Klavierspielen hingegen müssen die zwei Hände sowohl zusammengehörig als auch unabhängig von einander geführt werden können. Das Letztere ist eine der besonderen Schwierigkeiten bei Stücken von Chopin, wenn „Rubato“ angesagt ist.
Aber was verstehe ich schon vom Leben? Mittlerweile immer weniger. Ich verstehe zwar einige der Zusammenhänge, doch wenn ich die logischen Schlüsse ziehe, komme ich mir selbst nur mehr wie ein Verschwörungstheoretiker vor. Ich kann allerdings eines ins Treffen führen: es gibt kaum mehr vertrauenswürdige Medien. Oder anders ausgedrückt: was die Medien schreiben, scheint nur mehr das Resultat von sehr starken Beeinflussungen zu sein. Ich könnte das anhand von Beispielen aufführen, aber was brächte das? Von den richtigen Lesern wird das auch ohne Beispiele verstanden werden, oder?
Dieser Text ist ein Wort Beitrag zum Project
*.txt das dreizehnte Wort.
http://neonwilderness.net/2015/09/16/das-dreizehnte-wort-txt

Das zwölfte Wort der famosen Reihe *txt: „Rausch“. Siehe bei neonwilderness.
Den ersten Rausch, mit dem ich zu tun hatte, erlebte ich mit zehn Jahren. Später hatte ich unheimlich viele Formen von Rausch zu erleben, die ich nach den Substanzen einordnen könnte, welche den Rausch verursacht hatten. Ein weiterer Rausch, den ich hochgradig genoss, war der Geschwindigkeitsrausch. Doch über den möchte ich jetzt gar nichts schreiben.
Der Rausch, welcher den nachhaltigsten Eindruck auf mich hatte, war nicht durch Alkohol verursacht. Da gab es einen Whiskeyrausch mit Johnny Walker, den ich mit 22 Jahren hatte. Er verhinderte das Trinken von Whiskey für weitere 30 Jahre. Ähnliches könnte ich von einem Rum-Rausch erzählen. Der wirkte ebenfalls 30 Jahre.
Nein, der Rausch, von dem ich erzähle, war weitaus nachhaltiger. Man könnte sagen, dass er über 50 Jahre anhielt, ohne, dass es mir bewusst wurde. Erst heute, wo Rausch zum Thema wurde, wird mir bewusst, dass dieser Rausch bereits im Alter von zehn Jahren einsetzte und nie mehr seine Beeinflussung verringerte.
Tatsächlich war der Rausch ja vielleicht durch einen Katalysator verstärkt. Dieser Katalysator bestand aus unbeschränkten Mengen von Heidelbeeren.
Zerstampfte Erde, durchgetreten von schweren Kühen, teilweise mit schon zersetzten Kuhfladen, musste überwunden werden, um zu den Sträuchern zu gelangen, auf denen die blau-rote Köstlichkeit wuchs. Blau-rot, nicht blau-weiß. Blau-weiß, blaue Beere mit weißem Innenfüllung, heißt zwar Rauschbeere und kann schon größere Übelkeit hervorrufen, doch schon als Zehnjähriger wusste ich zwischen Heidelbeeren und Rauschbeeren zu unterscheiden. Manche behaupten ja, dass das Innenleben von Heidelbeeren auch blau ist. Ich habe es immer als rot angesehen, zumindest den Teil, den man sehen konnte, bevor man sie in den Mund steckte.
Jetzt habe ich aber schon geschrieben, dass es mir nicht um die Rauschbeere gegangen ist. Also was ist das jetzt mit dem Rausch.
Der Rausch war eine Lieblingspflanze meiner Mutter. Und er wuchs dort, wo auch die Heidelbeeren wuchsen. Dort wo die Sonne schien, den Boden wärmte und mitunter auch die Haut verbrannte. Dort, wo er eigentlich nicht gepflückt werden durfte, obwohl es noch nicht die verschiedenen Schutzkriterien gab.
Der Rausch ist für mich mit einer Gegend verbunden, in der heute viel besoffen wird, wo sich die high society herumtreibt und wo es Sommer wie Winter große Action und Geschäft gibt. Eigentlich ist der volle Name dieses Rausches der Almrausch oder auch die Rostblättrige Alpenrose. Aber das ist gar nicht so wichtig. Meine Eltern fuhren im Sommer mit mir auf den Hahnenkamm. Wir wohnten oben am Berg und es war traumhaft. Ich erinnere mich, dass ich nicht vertand, wie die Skilifte funktionieren könnten, denn die Sessel oder Schleppgarnituren waren im Sommer abmontiert.
Aber es gab Felsen, Moos, Gras, Kuhscheisse – und jede Menge Heidelbeeren und Almrausch.
Später habe ich dann meine unbewusste Begeisterung für Almrausch auf Flechten umgelegt, die ich am Großglockner fand. Aber im Sinne eines Rausches hat der Almrausch für mich Berg, Sonne, Schönheit, Kindheit und Ferien bedeutet.
Kinder erleben einen Rausch wohl anders. Und daher kann ich mich auch noch heute eine manche Einzelheiten erinnern. Und der Almrausch wirkte und wirkt auf mich durch die gewaltige Menge, die es von ihm gab. Er war das Kleid des Hahnenkamm. Der rote Dress eines Berges mit seiner eigenen Persönlichkeit.
Ich war später noch einige Male dort. Doch den Rausch erlebte ich mit zehn Jahren.
Almrausch

Paralipomena 2 (zu 2041)

Gestern bekam ich anlässlich einer Vernissage eine sehr wesentliche Anregung.
L’arte resta nel gesto, muore nella materia. Umetnost ostaje u nameri, umire u materiji.
(Die Kunst ruht in der Absicht (oder auch Vorstellung in der serbischen Version), sie stirbt in der Materie. [frei übersetzt HH])
Ich frage mich, wie es sein kann, dass die Kunst ausstirbt. Politiker und Verbrecher kann man erpressen. Aber die Erpressung versagt bei Künstlern. Die verhungern auch glatt einmal. Die Künstler wird man nicht ruhig stellen können, doch die Kunst selbst? Ja, das könnte funktionieren.
Möglicherweise wird es die persönliche Kunst geben, so wie es Künstler gibt, die einfach das produzieren, was sie produzieren müssen. Egal ob jemand zusieht oder zuhört. Doch die „offizielle“ Kunst, die gefördert wird, die als Handels- und Spekulationsobjekt missbraucht wird, die kann man abdrehen.
Ich benötige ein brauchbares Konzept, denn sonst wären die Künstler die effizientesten Revolutionäre der Zukunft.

aus 2041/19

Wei Liu war mit den derzeitigen Entwicklung recht zufrieden. Eigentlich hätte er sehr zufrieden sein können, doch die Neugier, wer seine geheimnisvollen Auftraggeber waren, setzte ihm zu. Er hatte schon einmal um eine Audienz gebeten, diese war aber höflich und bestimmt verweigert worden.
Er holte Chen zu sich und bat ihn, Kontakt mit Han Sin aufzunehmen und wenn möglich ein Treffen mit ihn zu vereinbaren. Han Sin, dessen Name der eines berühmten Generals aus der Tan-Dynastie war und dessen Gruppe den Namen Sanddrachen führte, gehörte nicht zu Lius vergrößerter Organisation. Allerdings waren seit dem ersten Auftreten der geheimnisvollen Auftraggeber jegliche Querelen mit Mitgliedern dieser Truppe ausgeblieben. Ihr Gebiet war Shanghai und Umgebung, ihren Namen hatte sie vom Quarzsand, der wiederum mit Silizium in Assoziation gebracht wurde. Der Sanddrachen war spezialisiert auf Cyber-Kriminalität, Erpressung und politische Einflußnahme und es gab hier nicht so viele Berührungspunkte mit Lius Leuten, wenn man davon absah, dass alle Casinobenützer von Lius Glücksspielstätten in den Datenbanken von Han Sin gespeichert waren.
„Gehen Sie diplomatisch vor. Sie dürfen es als höfliche Bitte formulieren. Schlagen Sie den hölzernen Drachen vor, wenn Han Sin bereit ist nach Peking zu kommen. Andernfalls muss ich mir überlegen, ob ich einen Besuch in Shanghai riskieren kann.“
Anschließend wählte er die bewusste Nummer. Die freundliche Damenstimme grüßte und setzte fort: „Wir sehen keinen Anlass für diesen Anruf.“ – „Ich habe eine Frage, die nur Sie beantworten können. Ich möchte mich mit Han Sin vom Sanddrachen treffen. Es wäre möglich, dass ich deswegen nach Shanghai reisen sollte. Bin ich da sicher und vor allem bin ich da auf der Reise sicher.“ – „Wir rufen Sie zurück. Es dauert nur einen Augenblick. Auf Wiederhören.“
In fünf Minuten läutete das Telefon. „Guten Tag. Die Reise ist sicher, doch fliegen Sie nicht und fahren Sie nicht mit dem Zug. Mit dem Wagen wird es zwar beschwerlich, aber die Sicherheit kann gewährleistet werden.
Tausendzweihundert Kilometer auf der Autobahn war Wei Liu noch nie gefahren. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dies sicherer als Flug oder Zug wären, aber er hatte gelernt, dass es sinnlos war, die Informationen anzuzweifeln. Jetzt konnte er nur hoffen, dass Han Sin bereit war, nach Peking zu kommen.
Chen kam nach zwei Tagen zurück. Er war mit dem Schnellzug dreieinhalb Stunden gefahren und hatte sich dabei sehr wohl gefühlt. Es hatte einen Tag gedauert, bis er Kontakt zu Han Sin aufnehmen konnte. Als er aber eine unmittelbare Verbindungsperson ausfindig gemacht hatte, hatte es nur mehr eine Stunde gedauert, bis er Han Sin in dessen Residenz gegenüber saß. Zwar waren ihm die Augen im Fahrzeug verbunden worde, doch wurde er mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt.
Han Sin war jünger als Wei Liu, doch erschien er Chen wie ein jüngerer Bruder von Wei Liu. Er mochte um die fünfzig sein. Obwohl seine Sprechweise etwas von dem ursprünglichen Dialekt Shanghais durchschimmern ließ, sprach er ein sehr schönes Mandarin und Chen hatte keine Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Bestimmte Höflichkeitsphrasen verwendete Han Sin fast in der gleichen Verwendung wie Wei Liu. „Was führt Sie zu mir? Wie geht es Wei Liu?“ – Chen war sehr überrascht, dass Han Sin diese persönliche Frage an ihn stellte. Was wusste Han Sin über Wei Liu? Kannte er ihn persönlich?
Chens Antwort kam sehr unsicher zurück: „Oh, danke der Nachfrage. Es geht ihm sehr gut.“ Er fragte sich, ob er ergänzen solle, dass Wei Liu „so menschlich“ geworden sei. „Wei Liu hat eine Frage oder Bitte an Sie. Er würde sich gerne mit Ihnen treffen. Er schlägt einen bestimmten Treffpunkt vor und weiß aber nicht, ob Sie eine Reise nach Peking unternehmen wollten.“
Über Han Sins Gesicht flog ein sehr kurzes Lächeln. „Und wenn ich Shanghai nicht verlassen wollte?“ Chen war es peinlich, doch er brachte heraus: „Wei Liu hat es nicht so gesagt, doch ich habe den Eindruck, dass er sogar bereit wäre nach Shanghai zu kommen.“
Han Sin schwieg. Nach einer langen Pause erwiderte er: „Genießen Sie doch Ihren Longjing-Tee. – Da ich der Jüngere bin, ist es wohl angemessen, dass ich mich auf den Weg mache. Nächsten Monat kann ich eine Reise einrichten. Bitte richten Sie Wei Liu den Dank für die Einladung und meine Bereitschaft, nach Peking zu kommen, aus.“ Der hartgesottene Chen, der in seinem eigenen Bereich als der gefürchteste Mitarbeiter von Wei Liu galt, spürte eine Erleichterung, die er sonst nie verspüren konnte. Dies war einer seiner schwersten Aufträge gewesen, auch wenn hier keine Lebensgefahr drohte. Der mögliche Gesichtsverlust hätte schwerer gezählt. Er wusste nicht, wie Wei Liu eine Ablehnung Han Sins aufgenommen hätte.
„Ich bedanke mich ausdrücklich und darf Sie jetzt so schnell wie möglich verlassen, um Wei Liu die Botschaft zu überbringen.“ – „Einer meiner Männer wird Sie zum Bahnhof bringen.“ Wieder wurden Chen vor der Autofahrt die Augen verbunden, allerdings durfte er nach zehn Minuten wieder frei sehen. Es gab einen Beifahrer, der sich mit einem Computer spielte. Nach fünf Minuten spuckte dieser über einen integrierten Drucker ein Blatt aus, das sich als Zug-Ticket herausstellte. „Wir sind ein bisschen knapp dran, daher haben wir Ihnen gleich das Ticket besorgt. Wir hoffen, dass Sie eine bequeme Fahrt haben werden.“ Aus alten Zeiten bot der Bahnhof die Möglichkeit mit Fahrzeugen bis direkt auf den Bahnsteig zu fahren, allerdings wurden auf diese Weise nur die ersten beiden Waggons erreicht. Chen stellte fest, dass sein Ticket auf die Premium Business Class ausgestellt war. „Sie werden keine anderen Personen im Abteil antreffen. Wir haben die restlichen Sitze blockiert.“ Chen bedankte sich und bestieg den Waggon. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, fuhr der Zug an. Als Chen auf die Uhr sah, bemerkte er, dass der Zug sieben Minuten zu spät war. Das passierte bei diesen Hochgeschwindigkeitszügen nie. Es wurde ihm bewusst, wie weit die Macht von Han Sin zu reichen schien.
Einen Monat trafen sich Wei Liu und Han Sin im Hözernen Drachen. Han Sin erwies Wei die Ehren, die dem Älteren gebührten. Wei Liu war überrascht, in seinem Gast einen sehr kultivierten Managertypen vorzufinden, der über beste Manieren und Kenntnis der chinesischen Tradition verfügte. Das Treffen gestaltete sich von Anfang an als freundschaftlich. Die Themen waren allerdings ohne größere Bedeutung, was sich änderte, als Wei Liu über den eigentlichen Grund seiner Einladung sprach. Da er von Chen gehört hatte, dass Han Sin sich nach seinem Befinden erkundigt hatte, hielt er sich nicht lange mit Vorreden auf.
„Sehen Sie, Han Sin, ich habe vor zwei Jahren den Ablauf in meinen Organisationen verändert und bin damit sehr gut gefahren. Außerdem haben sich meiner Organisation vier weitere angeschlossen, wobei man fast von Unterordnung sprechen könnte. Bitte verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, Sie haben sich nicht angeschlossen und ich will Ihnen das gar nicht nahelegen. Aber ich frage mich, wie Sie zur Ausweitung oder auch Veränderung meines Geschäfts stehen, bevor ich Ihnen mein eigentliches Anliegen vortrage?“
Hans Sin lächelte kurz. „Verehrter Wei Liu, wissen Sie, dass Sie in unseren Kreisen als Weiser verehrt werden? Ihre Veränderung war spürbar und hat zu einer gesellschaftlichen Veränderung geführt. Das Wundersame dabei ist nicht die Veränderung selbst sondern das Tempo, in dem sie stattgefunden hat. Man könnte fast von einer Revolution sprechen. Eine unblutige.“ er setzte hinzu „oder fast unblutige.“
Han Sin ergänzte: „Sie wissen, dass meine Agenden anderer Art sind. Wir haben nie Gewalt benötigt, daher war es auch nicht notwendig, einen engeren Kontakt mit Ihrer Organisation anzustreben. Sie können aber versichert sein, dass wir Sie respektieren und Ihnen freundschaftlich gesonnen sind. Im weiteren sind ja auch die Töpfe, aus denen wir unser Einkommen schöpfen, vollkommen unterschiedlich.“
Wei Liu fand diese Antwort zwar sehr höflich, aber sie half ihm nicht, auf das eigentliche Anliegen zu kommen. „Haben Sie sich nie gefragt, wieso es zu dieser Revolution, wie Sie sie nennen, kommen konnte?“
Han Sin erwiderte sehr ernst: „Ihre Änderungen haben Ihnen zusätzlichen Gewinn gebracht. Da gab es nichts zu hinterfragen. Allerdings erstaunt es, wie zielsicher die Korrekturen in Ihrer Organisation stattgefunden haben.“ Er hätte auch sagen können, wie gerechtfertigt die Exekutionen einiger Bandenmitglieder gewesen waren.
„Haben Sie so vertrauenswürdige Informanten, dass Sie an all die wesentliche Informationen heran kommen?“
Wei Liu sagte langsam: „Über jedem Himmel ist noch ein Himmel.“ Dies war ein Zitat aus einer uralten Go-Legende und konnte unterschiedlich ausgelegt werden.
Han Sin schwieg.
Wei Liu schwieg.
Nach einer recht langen Pause meinte Han Sin: „Ich glaube zu verstehen.“
Er ergänzte: „Wir erklimmen Stufen um Stufen, bis wir feststellen, dass wir den gleichen Berg besteigen.“
Wei Liu fragte: „Sie auch?“
Han Sin antwortete: „Sie hat eine sehr angenehme Stimme.“
Wei Liu fuhr fort: „Und Sie verstehen meine Neugier?“
Han Sin erwiderte: „Ich teile sie.“
Daraufhin schwiegen wieder beide.
Wei Liu rief den Kellner. „Bringen Sie Sake!“ Han Sin warf ein: „Bitte nicht für mich, ich trinke keinen Alkohol. Bringen Sie mir bitte Tee.“
Wei Liu wies den Kellner an: „Vergessen Sie den Sake. Bringen Sie uns Longjing-Tee.“ Han Sin schmunzelte anerkennend. Natürlich hatte Chen erwähnt, was er bei Han Sin getrunken hatte.
Wei Liu seufte: „Ich hatte gehofft, dass Sie mir helfen könnten. Sie haben doch jede Information. Sie müssen unseren gemeinsamen Himmel doch kennen.“ – „Nein, ich kenne ihn nicht. Ich habe hier schon sehr viel geforscht. Ich kann Ihnen allerdings eines mitteilen. Wir haben auch Informationen vom russischen und vom amerikanischen Geheimdienst. Auch die UNA hat ihre Verfahren geändert. Insgesamt haben sie sich nicht sehr verändert, doch die Konsequenzen ihrer Auswertungen sind andere. Und es gibt eine sehr interessante Merkwürdigkeit. Weder Sie noch ich sind in den Aufzeichnungen der UNA aufgeführt. Wir scheinen für die Amerikaner nicht zu existieren. Und das, obwohl sie Aufzeichnungen über alle Politiker beliebiger Staaten haben. Ich verstehe, dass ich nicht aufscheine. Aber Sie sind ja inzwischen die Geheimregierung Chinas geworden – und ich sage das ohne Kritik. China wurde noch nie so gut geführt, wie zur Zeit. Entweder haben Sie eine ähnlich gute Informatik wie ich – was ich nach ihrer Fragestellung bezweifeln darf, oder sie bekommen Ihre Informationen von einer Stelle, die ausgezeichnet unterrichtet ist.“
Wei Liu nickte bedächtig. „Und die Frage ist, wer hat die Information und so edle Motive?“
Han Sin stimmte zu: „Das ist die Frage!“
Jeder nippte an seinem Tee. Dann eröffnete Han Sin eine Sensation. „Man hat mich unterrichtet, dass viele Organisationen sich Ihnen anschließen werden. Gleichzeitig wurde mir aber mitgeteilt, dass ich das nicht tun müsste oder sollte. Unsere beiden Organisationen wären getrennt noch effizienter als gemeinsam. Daher habe ich davon Abstand genommen, den Gedanken weiter zu verfolgen.“
Wei Liu verstand. Natürlich war die derzeitige Anordnung die bessere. Und innerlich lächelte er. Jetzt wusste er, wer sein Nachfolger werden würde.
Seinen Auftraggeber kannte er noch immer nicht.

aus 2041/18

„Passen Sie auf, ob in einer Konversation oder einer schriftlichen Nachricht der Code ‚XYZZY‘ auftaucht. Das klingt sehr einfach, aber wir haben festgestellt, dass lange Codes nur Aufsehen versorgen, falls sie irgendwo in ein elektronisches Medium geraten. Dieser Code ist einer der ältesten und hat einmal zu einem Spiel gehört. Niemand kennt das mehr und vor allem nicht seine Funktion.
Jetzt machen Sie noch möglichst viel sight seeing und benehmen Sie sich wie ein neugieriger Tourist. Wenn Sie zuhause sind unternehmen Sie nichts, was Sie nicht in der letzten Zeit gemacht haben. Sie müssen aus dem unmittelbaren Beobachtungshorizont herausfallen, bevor wir sie kontaktieren können. Sie verstehen, warum das so sein muss?“
Hartmut nickte. „Bin ich jetzt in Lebensgefahr?“
„Hoffentlich nicht. Wenn Sie sich im Weiteren unauffällig verhalten, sollte das System keinen Verdacht ausweiten. Wir gehen beim Hintereingang hinaus.“
Veronika zeigte ihm noch, wo es in Richtung Naschmarkt ginge. Der war zwar kein Markt mehr aber noch immer eine Sehenswürdigkeit wegen der Häuser, die ihn begrenzten. Hartmut sollte sich hauptsächlich in der Nähe von Sehenswürdigkeiten aufhalte.
Als Hartmut wieder bei sich zuhause war, grübelte er darüber nach, warum er Veronika gesagt hatte, dass er nichts über Geschichte wusste. Es stimmte, dass er nichts über lang vorüber liegende Epochen wusste. Doch seine Bücher, die er selbst besaß, berichteten eindeutig über eine Zeit vor dem Jetzt. Eine Zeit, in der Terrorakte passierten und die Menschen sich nicht vertrugen. Die Zeit, bevor Wolfram erpresst worden war.
Er fragte sich, ob der Ausdruck Erpressung zutraf. Wenn es eine Erpressung gegeben hatte, war danach alles zu besseren gesteuert worden. Doch wie er bisher verstanden hatte, war es die Sucht nach Eigentum, die die Menschen zu den ungeheuerlichsten Aktionen trieb. Kriege waren ein großer Gewinn für die so bezeichneten Kriegsgewinnler. Jetzt stellte sich die Frage, welchen Gewinn erhoffte sich der Erpresser, wenn er diese Gewinnquellen abdrehte.
Diese Frage hatten sich schon andere gestellt. Zum Beispiel Wei Liu hatte seit der Umstellung seiner Organisation große Gewinne gemacht, aber sie kamen aus anderen Quellen als bisher. Glückspiel wurde in manchen Ländern ja vom Staat direkt betrieben. Es konnte also nicht so kriminell sein. Den Mädchenhandel hatte er selbst nie besonders geschätzt, er gehörte nur dazu, um die niederen Chargen in seiner Organisation zu befriedigen. Wei Liu besaß Kunstwerke in seinem Haus. Darunter waren auch sehr wertvolle Kalligraphien mit Sprüchen von Kong Qiu. Das Gefühl verstärkte sich in ihm, dass der Spruch „Was du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir – für immer.“ mehr und mehr für ihn wirkte. Anfangs wurde ihm noch mehrmals im Monat bedeutet, dass bestimmte Personen zu liquidieren seinen. Die Frequenz nahm ab. Nach drei Jahren waren es nur mehr zwei Personen im Vierteljahr. Bei den Organisationen, die sich seiner angeschlossen hatten, war es ähnlich. Er hatte den Überblick, weil er die Namen weitergab.
Eines Tages beschloss er, ein Treffen zu organisieren. Da er wusste, dass er überall attackierbar war, rechnete er sich aus, dass er auch überall beschützt würde und hielt das Treffen im Hölzernen Drachen ab. Es waren sechs Leute zugegen, neben Wei Liu und Chen nahmen Yang Li und drei weitere Drachenköpfe teil. Der Geschäftsteil dauerte nur fünf Minuten. Alle Organisationen hatten ansehnliche Gewinne erwirtschaftet-
Danach wurde das Menü „Goldene Erde“ mit dreiunddreißig Gängen aufgetragen und Fen-Schnaps zum Abschluss gereicht.
Bevor zum ersten Mal gemeinsam geprostet wurde, ergriff Wei Liu das Wort.
„Wie Sie wissen, hat sich einiges in unseren Organisationen geändert. Ich glaube, dass Sie mir zustimmen werden, dass wir uns verbessert haben. Darauf trinken wir.“ „Ganbei“, – „Ganbei“ … ging es um den runden Tisch.
Wei Liu setzte fort. „Ich gehe davon aus, dass wir alles erreicht haben, was wir für uns wünschen. Gibt es jemanden, der Wünsche offen hat.“ – „bù shi“, „bù shi“, … Alle verneinten.
„Die nächste Frage scheint überflüssig. Aber ich stelle sie jetzt und erwarte eine ehrliche Antwort: „Möchte jemand meine Position haben?“ Es trat eine Stille ein, die mehrere Minuten dauerte. Dann meldete sich Chen. „Verehrter Meister. Nehmen wir an, ich würde das wollen. Woher würde ich dann einen Ersatz für mich finden?“ Vier Personen schauten etwas betreten drein, doch dann sahen sie, dass ein leises Lächeln den Mund von Wei Liu umspielte. Darauf gab es ein lautes Prusten und Lachen der Erleichterung.
Wei Liu ließ die Bombe platzen: „Wir müssen etwas der Gesellschaft zurückgeben. Wir müssen die Armen unterstützen. Wie Sie gesehen haben, wird unethisches Verhalten bestraft. Wir haben bis jetzt immer gedacht, dass es uns zusteht, das Geld anzuhäufen. Wir haben rechtmäßig gehandelt, weil nur wir konsequent, mit Gesetzen und deren Durchführung handeln. Es gibt keine Korruption in unseren Reihen. Wir sind die bessere Regierung. Daher sollten wir von unserer Macht Gebrauch machen.
Ich habe für jeden von Ihnen ein Geschenk.“ Er winkte Chen, der widerum eine Handbewegung in Richtung Türe machte. Diese öffenete sich und einer der Chaufeure kam mit einer Schachtel herein. Yang Li und die anderen erblassten. Es war wie ein klassisches Exekutionsszenario wie sie früher üblich gewesen waren. Als der Deckel der Schachtel geöffnet wurde, war Erleichterung anzumerken. In der Schachtel befanden sich lediglich vier Schriftrollen. Chen stand auf und nahm eine nach der anderen heraus und händigte sie den übrigen Teilnehmern aus.
Wei Liu, dem die Besorgnis der Gäste nicht entgangen war, erklärte: „Diese Schriftrollen sind eine Kostbarkeit. Ich habe Sie von einem der größten Kalligraphie-Experten, die es heute gibt, anfertigen lassen. Sie finden darauf eine Weisheit von Kong-Qiu. Studieren Sie sie und handeln Sie danach. Ich bin sehr gespannt, welche Erfahrungen Sie damit machen werden, wenn Sie nach ihr handeln.“
Die Gäste blickten verblüfft und ratlos. Keinem war es möglich, die Kalligraphien zu entziffern. Keiner wollte zugeben, dass er nicht wusste, was darauf stand.
Wei Liu meinte leichthin: „Sie verfügen über genügend Resourcen, um sich eines Kalligraphen zu versichern, der Ihnen die Weisheit deuten wird. Glauben Sie mir, es steckt ein sehr tiefer Sinn darin. Ich selbst beginne gerade, die außerordentliche Macht zu erkennen, die darin steckt. Ich teile diese Macht gerne mit Ihnen.
Wir treffen uns in drei Monaten wieder. Dann sprechen wir über ihre Erfahrungen.“
Als Wei Liu nach Hause gekommen war, überfielen ihn Zweifel. Hatte er richtig gehandelt? Was würden seine unbekannten Auftraggeber sagen? Er musste nicht lange warten und sein Telefon läutete. Am Apparat war eine Frauenstimme. „Guten Abend. Sie haben heute etwas begonnen, von dem nicht bekannt ist, welche Auswirkungen zu erwarten sind. Wir hätten es nicht von Ihnen erwartet, dass Sie einen derartigen Alleingang unternehmen. Für uns ist es sehr interessant, was heute passiert ist. Wir werden es weiterhin verfolgen. Wir sind nicht einverstanden damit, dass Sie so gehandelt haben. Wir haben allerdings eine ähnliche Aktion von Ihnen erwartet, welche war unbekannt. Der Umstand, dass Sie etwas machen, was sich gegen unsere Interessen richten könnte, war Grund, Sie für Ihre Rolle auszusuchen.
Wir haben beschlossen, unser Vertrauen in Sie zu vergrößern. Sie werden dies anhand eines Geschenks sehen, welches Sie in Kürze erhalten werden. Guten Abend.“ Unmittelbar nach ihrer Ansprache legte die Frau auf. Gleich darauf läutete es noch einmal. Es war Chen. „Ein Geschenk ist für Sie abgegeben worden. Keine Waffe, keine Chemikalien. Es sieht aus wie ein Buch.“ – „Gut, bringen Sie es mir.“
Als Wei Liu das Buch in den Händen hielt, lächelte er mit ernstem Gesicht, nur seine Augen lächelten, sein Mund verzog sich nicht. Er hielt ein Buch in Händen, dass er als Zwanzigjähriger zum ersten Mal gesehen hatte. Durch eine Plexiglasscheibe, gesichert durch eine Alarmanlage, war das Exponat mit „Mawangdui Seidentexte“ beschrieben gewesen. Jetzt befand sich in seinen Händen eine der ältesten Niederschriften des I-Ging. Im Behälter, in dem das Buch gewesen, befand sich ein kleiner Zettel. „Bitte möglichst verschlossen aufbewahren, Temperatur 18% C, Luftfeuchtigkeit 42%. Möge Ihnen Lao-Tse ebenso zusagen wie Konfuzius.“
Vorsichtig legte Wei Liu das Buch wieder in den Behälter, nachdem er zuvor den Zettel herausgenommen hatte. Er rief Chen. „Bitte versorgen Sie das sorgfältig und besorgen Sie mir ein Buch der Wandlungen, dass ich lesen kann.“
Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Wir sollten mehr hergeben, wo kam das sonst noch vor?

xyzzy war ein Magic Word, welches es ermöglichte in einem der ersten Computerspiele aus einem Labyrinth ununterscheidbarer Gänge heraus zu kommen.

aus 2041/17

Für meine drei urgierenden Leserinnen und Leser
„Sie müssen sich Folgendes vorstellen:
Unsere Infrastruktur funktioniert hervorragend. Darüber kann kein Zweifel bestehen. Viele untergeordnete Tätigkeiten werden von Maschinen durchgeführt, die anscheinend kaum Wartung benötigen. Wie viel Einwohner hat die Erde zur Zeit?“ Hartmut meinte: „Heute weiß ich es gar nicht. Als ich noch arbeitete, gab es eine Zahl von neun Milliarden.“
„Ja, es sind auch heute noch neun Milliarden, so ungefähr. Und diese Zahl scheint nicht zuzunehmen, obwohl wir keine Kriege mehr kennen. Können Sie sich vorstellen, wie man neun Milliarden Menschen zufriedenstellen kann, ohne dass Sie irgendwo Revolutionen oder unzufriedene Menschen haben? Es ist eigentlich unmöglich, dieses als wirklich anzunehmen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: entweder werden die Informationen, die zu uns gelangen, gefiltert oder es gibt ein überdimensionales Kontrollsystem, welches alle Konflikte bereits im Ansatz regelt. Was wissen Sie über Geschichte?“
Hartmut dachte nach: „Eigentlich nichts. Das ist ja der Grund, warum ich nach Quellen suche.“
„Sehen Sie, das ist der springende Punkt. Es gibt keine Quellen mehr. Mit ganz wenigen Ausnahmen. Früher haben die Kinder noch Geschichte gelernt. Sie haben über Kriege erfahren und über die grenzenlose Unbelehrbarkeit der Menschen, welche dieselben Fehler in allen Zeiten wiederholt haben. Die Gründe waren meistens die gleichen. Jemand wollte Macht. Warum er das wollte, war durch wenige Auslöserfaktoren begründet. Manchmal war es nur ein kleiner physischer Defekt, den der Betreffende kompensieren wollte. Manchmal war es einfach der Wunsch nach Besitz, nach Geld, mit dem man sich Sex kaufen konnte. Dazu kam noch der Wunsch nach Unangreifbarkeit. Das alles haben die Kinder gelernt. Heute wissen es nicht einmal die Erwachsenen. Sie erfahren nichts und sie können es auch nirgendwo nachlesen. Können Sie mir folgen?“
Hartmut nickte: „Aber woher wissen Sie denn das alles?“
„Wir sind die ‚Bösen‘. Wir lehnen uns gegen das System auf. So wie wir es immer getan haben, als Anarchisten, als Rebellen. Doch mittlerweile hat sich unser Beweggrund geändert. Wir rebellieren nicht mehr gegen das System. Das wäre absolut zwecklos. Es ist stärker. Wir haben viele Freunde verloren, wobei wir am Anfang gar nicht wussten, wie sie enttarnt wurden. Es gab auch keine Verfolgung. Die Freunde verschwanden einfach.“
Hartmut schüttelte bedauernd den Kopf: „Und was ist Ihr Beweggrund heute?“
„Dazu später. Ich frage Sie, warum sind die Menschen heute zufrieden? Warum heute, warum nicht früher?“
Hartmut hatte keine Antwort.
„Sie kennen nur ihr derzeitiges Leben. Sie haben keinen Hunger, sie haben Spiele, es wird ihnen nicht langweilig – außer Ihnen, wie es scheint – und daher gibt es keinen Grund, irgendetwas zu hinterfragen. Und es gibt keinerlei Reize von außen, die einen Denkvorgang in Gang setzen könnten.“
– „Aber es gibt doch Menschen, die arbeiten und die denken müssen. Ich habe schließlich auch gearbeitet.“
„Ja, Sie haben gearbeitet. Es braucht ein paar intelligente Menschen, die gescheit genug zum Arbeiten sind, aber sonst nichts hinterfragen. Mit ihren statistischen Daten hätten Sie sich einige Fragen stellen müssen. Doch durch die Medien werden Sie kontinuierlich davon abgehalten.“
Hartmut musste das zugeben, er tat es aber nur im Stillen und sagte nichts.
„Wollen Sie 1984 wirklich lesen? Sie würden nicht die Information erhalten, die sie suchen. Das Buch schildert nicht die Vergangenheit. Es schildert eine Zukunft, die damals als negativ empfunden wurde. Das herrschende Regime bestimmte über die Geschichtsschreibung. Alles was nicht zu seiner Unterstützung passte, wurde gelöscht oder umgeschrieben. Und die Sprache wurde auf einfache Konstrukte reduziert. Mehr werden Sie in dem Buch nicht finden. Aber das reicht schon. Denn die Geschichte mit der Geschichtsumschreibung hat stattgefunden. Mit dem Ergebnis, dass es überhaupt keine Geschichtsschreibung mehr gibt.“
Hartmut fühlte, wie ihm der Boden unter den Sesselbeinen entschwand. Er hatte Angst zu fallen.
„Es gibt ein zweites Buch dieser Art, ‚Schöne Neue Welt‘. Aus diesem Buch kann man entnehmen, dass die Leute mit Drogen ruhig gestellt wurden. Auch dieses Detail gibt es in unserer realen Welt. Und in einem dritten Buch ‚Fahrenheit 451‘ werden Bücher als Quelle allen Unheils gesehen und verbrannt. Der Unterschied zu heute ist, dass dieses Verbrennen nicht mehr öffentlich stattfindet. Die Bücher werden entsorgt, nachdem sie in Computer eingescannt wurden. Niemand befürchtete, dass der Inhalt der Bücher verloren gehen würde. Doch die eingescannten Bücher waren später nicht mehr zugreifbar.“
Hartmut fragte: „Aber Sie sind doch jung, woher können Sie dann wissen, was war?“
Veronika erwiderte: „Sagt Ihnen der Name Goethe noch etwas.“ Hartmut erinnerte sich ganz dumpf, dass er den Namen schon einmal in seiner Kindheit gehört hatte. Sonst hatte er keine Assoziationen.
„‚Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.‘ So beschreibt sich der Teufel selbst im Hauptwerk von Goethe. Wir waren einmal die Bösen. Wir mussten uns verstecken und tarnen. Das bedeutete, dass wir auch von allgemeinen Netzwerken isoliert waren. Nachdem wir selbst Viren erzeugten – das war vor 60 Jahren – wussten wir von der Gefahr einer Gegeninfiltration. Unsere Hauptcomputer waren nie an öffentlichen Netzen. Es gab Pannen. Einmal um 2045 hatte einer unserer Kollegen unvorsichtigerweise beim Auskundschaften eines Infoautomaten eine Sicherheitsvorkehrung außer acht gelassen. Er selbst und dreißig seiner Mitarbeiter, die in seinem Rechner mit Adressen existierten, verschwanden innerhalb von einem Monat. Seither wussten wir, wie gefährlich eine Interaktion mit dem System sein konnte.“
Der Mann von vorhin kam in die Küche. Ganz ruhig meinte er: „Wir haben 28 Minuten Zeit, die Zelte zu räumen. Unsere Adresse ist aufgeflogen. Vermutlich wegen der heutigen Aktion. Ihr werdet den kürzesten Weg zu K1 nehmen. Wir anderen müssen noch zusammen packen.“
Veronika packte Hartmut am Arm: „Kommen Sie, wir müssen schleunigst verschwinden.“ Sie zog eine weitere Perücke an, diesmal rötlich und eine Brille, wie sie gerade in den Innenstädten modern war.
„Wir müssen Sie auch noch verkleiden.“ Hartmut bekam einen Mantel und einen Bart angeklebt, der im Vergleich zu seinem eigenen wesentlich länger war, vor allem aber schwarz und nicht grau. Ein Hut verdeckte die Konturen seines Haaransatzes.
„Wir haben einen Vorteil und eine Chance. Das System setzt nie besonders effiziente Verfahren ein, wenn es um Alarmfälle geht. Wir sind jetzt ein Alarmfall. Wahrscheinlich kommen nur ein oder zwei Personen, mit Hochleistungskameras bewaffnet, welche die Identität der hier befindlichen Menschen erfassen wollen. Die eigentliche Exekution erfolgt später. Unser Hauptinteresse besteht also darin, unerkannt zu bleiben. Unsere Tarnung ist nicht besonders leistungsfähig, vor allem weil die Körpermaße und Bewegungsabläufe vermessen werden. Wir können hoffen, dass es für Sie noch keine Vergleichsmaße gibt. Ich gebe Ihnen einen Straßenplan. Die neue Adresse ist leicht zu finden. Sie müssen in spätestens 15 Minuten dort sein. Treffen Sie später ein, müssen wir davon ausgehen, dass Sie vom System als Spion eingesetzt werden. Alles klar?“
„Nein, was mache ich, wenn ich an der Adresse angelangt bin?“ – „Das ist eine alte Schule. Das Haupttor ist offen. Anschließend gehen Sie in den Keller, nicht zu verfehlen. Wir sammeln Sie dann schon auf.“
Hartmut fühlte sich plötzlich sehr unsicher. „Ich soll wirklich allein gehen?“ – „Das ist die einzige Möglichkeit: Paare sind verdächtig, es sei denn sie fahren auf dem Rad. Aber Rad fahren werden Sie ja nicht wollen.“ Hartmut verneinte: „Und wie komme ich jetzt hier raus?“ – „Kommen Sie. Sie gehen hier hoch und wenn Sie oben sind gehen Sie durch das Haus durch und beim Eingangstor können Sie das Gelände ohne Probleme verlassen.“ Sie zeigte auf eine langgezogene Treppe. Diese war ursprünglich einmal eine Materialrutsche gewesen, auf der Sauerkraut in eine im Keller befindliche Produktion angeliefert wurde.
Hartmut stiefelte hoch. Es war beschwerlich, die Treppe war doch ziemlich lang. Als er oben ankam, befand er sich in einem Innenhof. Er erkannte das Haupthaus an seiner grünen Farbe und betrat es durch die Hoftür. Als er auf die Barawitzkagasse trat, erinnerte er sich an den Stadtplan. Er wandte sich nach links und an der Kreuzung mit der Döblinger Hauptstrasse wieder nach links. An der Pyrkergasse musste er rechts einbiegen, die zweite linke Abzweigung war bereits die Kreindlgasse. Die Schule war deutlich sichtbar. Er hatte 12 Minuten gebraucht. Alles lief so wie vorherbesprochen. Als er auf der Kellerebene war, öffnete sich eine Tür und zog ihn in den Raum. „Das haben Sie ja brav geschafft. Passen Sie auf. Mit der weiteren Erklärung müssen wir ein bisschen warten. Wir müssen jetzt an ihrem Alibi basteln. Wir machen das so. Wir bringen Sie nach Heiligenstadt. Das wird ein bisschen aufwendig sein. Auf der U-Bahnstation setzen wir Sie auf eine Bank und Sie dürfen ein bisschen schlafen. Nur ein paar Minuten. Es ist eine bestimmte Bank, denn die Kamera mit der diese Bank überwacht wird, können wir beeinflussen. Es wird so aussehen, als hätten Sie zwei Stunden geschlafen. Dann fahren Sie mit der U-Bahn zurück zum Karlsplatz und gehen ins Hotel. Ich werde morgen wieder mit Ihnen Kontakt aufnehmen.“
„Werden Sie nicht mit mir nach Heiligenstadt gehen?“ – „Wo denken Sie hin. Das wäre viel zu auffällig? Nein, Sie werden sich ein bisschen klein machen müssen und sich in einer Maschine verstecken. Die Verkleidung können Sie wieder ablegen. Ab jetzt sind Sie wieder sie selbst. Kommen Sie!“
Sie führte ihn zu einem Hinterausgang der Schule. Dort stand eine große, gelbe Reinigungsmaschine, wie sie zum Säubern der Stadt benutzt wurden. Es gab einen Abfallbehälter, der ausreichte, einen zusammengeknautschten Hartmut aufzunehmen. „Die Route ist programmiert. Die Reinigungsleistung ist auf minimum gestellt. Ein bisschen Dreck wird zu Ihnen kommen, aber nicht viel. Wenn es drei mal summt, können Sie den Behälter aufdrücken und aussteigen. Sie werden bei einer Fluchtstiege ankommen, die sie hinaufgehen können. Dann setzen Sie sich auf die zweite Wartebank und machen einen schlafenden Eindruck. Mit der nächsten oder besser der übernächsten U-Bahn fahren Sie dann zurück. Geben Sie vor, versehentlich eingeschlafen zu sein. Falls Sie von einem Bekannten gefragt werden, was Sie gemacht haben, vermeiden Sie jeden Hinweis auf Spaziergang oder B1. Natürlich auch nicht K1.
Tja, Sie sind jetzt mitgehangen, mitgefangen. Ich hoffe, Sie lieben Abenteuer. Ihr Leben wird fortan etwas ‚interessanter‘ sein.“ Sie sprach das ‚interessanter‘ mit einem leicht spöttischen Unterton.
Hartmut kletterte hinein. Die Maschine machte sich auf den Weg. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie stehen blieb und drei Summtöne hörbar wurden. Hartmut, der bisher noch nicht gewusst hatte, was Klaustrophobie war, war heilfroh, endlich seinem Verschlag entkommen zu können. Er wartete am unteren Ende der Treppe, weil er noch sehen wollte, wie die Maschine weiterfuhr. Danach stieg er hoch und setzte sich auf die Bank. Er war wirklich etwas müde. Er traute sich kaum, die Augen zuzumachen, weil er befürchtete, dann zu lange zu schlafen. Er war sehr froh, als endlich die zweite U-Bahn kam. Er rieb sich die Augen und hastete zu den Waggons. In der U-Bahn fühlte er sich sicher. Er gehörte wieder zum System.
Das Gefühl der Sicherheit war wärmend. Doch umso abrupter war sein Ende, als er in seinem Hotelzimmer auf dem Bildschirm einen Anruf empfing. Das Bild zeigte Peter. „Schönen Tag gehabt? Was hast Du gesehen?“ – „Nicht viel. Vormittags war ich im Museum und nach dem Mittagessen fuhr ich nach Heiligenstadt.“ – „Aha, Du wolltest wohl die Barawitzkagasse aufsuchen.“ – „Hätte ich vielleicht gemacht, doch plötzlich war ich so müde, dass ich mich hingesetzt habe. Ich muss wohl zwei Stunden auf der Bank geschlafen haben. Danach war meine Initiative auf null und ich bin zurück ins Hotel gefahren. Das waren ziemlich leere Kilometer.“ Auf dem Gesicht von Peter zeigte sich fast unmerklich eine leichte Enttäuschung. „Du warst nicht dort?“ – „Wo meinst Du?“ – „Barawitzkagasse 10“ – „Nein, aber wenn Du so fragst, dann weißt Du vielleicht, was ich dort vorgefunden hätte.“ – „Darf ich dir nicht sagen. Hast Du nicht den Hinweis gelesen, dass es sich um ‚klassifizierte Information‘ handelt?“ – „Doch, aber damit konnte und kann ich nichts anfangen.“ – „Das ist gut so. Du solltest damit überhaupt nichts zu tun haben. Obwohl … “ Peter lächelte etwas säuerlich. „In deinem Beruf hattest Du nur mit klassifizierter Information zu tun.“ – „Aha, soll sein. Mir bedeutet der Ausdruck trotzdem nichts.“ – „Nun ist ja gut, viel Spass noch morgen! Guten Abend, ciao.“
Hartmuts Puls und Blutdruck waren gestiegen.
Was er heute nachmittag gehört hatte, war schon beunruhigend genut, aber dass Peter so genau Bescheid wusste, setzte eine Überlegungen in Bewegung. Peter, ’sein Freund‘, war offensichtlich Teil des Systems. Ein System, welches alles fast lückenlos überwachte. Peter wusste über die Barawitzkagasse Bescheid. Hatte er den Alarm ausgelöst. Konnte Peter ein so umfassendes Wissen über seine Person und seine Aktivitäten haben? Er entnahm der Minibar noch eine Flasche Wein und trank sie leer um daraufhin in einen unruhigen Schlaf zu verfallen.
Als er in der Früh aufwachte und sich anzog, entdeckte er einen Zettel in seiner Hosentasche. „Gusshausstrasse 25, 11:00. Verwenden Sie keinen Infoautomaten. Sagen Sie dem Kellner, dass Sie vorhaben, ein bisschen die nähere Umgebung zu erkunden. Vernichten Sie diesen Zettel. Wenn Ihnen der Kellner einen Navigator aufdrängt, nehmen Sie in dankend an aber ‚vergessen‘ Sie ihn in ihrem Zimmer.“ Er verspürte etwas wie Freude und überraschte Neugier, aber auch ein bisschen Zufriedenheit. Es würde weitergehen.
Beim Frühstück drängte ihm der Kellner den Navigator auf. Hartmut wollte ihn nicht annehmen, doch dann erinnerte er sich an die Anweisung. Er sah den Ausdruck von Erleichterung in den Augen des Kellners, als er den Navigator einsteckte.
Um halb elf machte er sich auf den Weg. Er spazierte an der Karlskirche vorbei, verbrachte dort aber fünf Minuten, um den Eindrück des Touristen zu vermitteln, dann schlenderte er in der Karlsgasse weiter. Kurz bevor er die Gusshausstrasse erreichte, kam ihm ein junges Mädchen in Leggins und einem T-Shirt mit der Aufschrift ‚Citizen of Vienna‘ entgegen. Als er an ihr vorbei ging, packte sie ihn an Arm und drückte ihn gegen die Hauswand. „Einen Moment!“ Sie zog einen Schlüssel hervor und öffnete die Eingangstür zu einem ehemaligen Gasthaus. „So da hinein!“ Sie verschloss die Tür von innen und drängte ihn, zum hinteren Gastraum weiter zu gehen. Als er sich niedersetzte und sie genauer ansah, konnte er seinen Augen nicht trauen. Das war Veronika, sichtlich mindestens 12 Jahre jünger. Vielleicht die Schwester. Das Mädchen schmunzelte. „Ich bin es schon selber!“ Sie lachte ihn aus. „Also verlieren wir keine Zeit. Wir haben hier ungefähr eine Stunde Zeit. Also besser ist es, wenn wir vor 45 Minuten hier abhauen.“
Hartmuts Gesicht war das der reinen Verblüffung.
„Okay. Machen wir weiter. Wie gesagt, wir waren die Bösen. Was wir heute sind, ist nicht so leicht zu sagen. Wir planen keine Terrorakte. Wir wollen nicht das System angreifen. Wir wollen uns nur außerhalb des Systems bewegen können. Unüberwacht. Und wir wollen die Geschichte des Menschen bewahren. Um das zu tun, müssen wir uns der allgemeinen Überwachung entziehen. Und das ist verdammt schwierig geworden.“
Hartmut nickte.
„Überwachung hat es schon immer gegeben, doch schien es in der Vergangenheit nicht möglich, die Vielzahl der Daten entsprechend auszuwerten. Das hat sich geändert. Irgendjemand verfügt über derart leistungsstarke Computer, dass die Verbindung von scheinbar unzusammen hängenden Daten sichtbar wird.“
Veronika dachte etwas nach. „Zwischen den Daten und einer vernünftigen Auswertung gab es immer eine Verzögerung. Diese Verzögerung ist aber so kurz geworden, dass es den Anschein hat, dass die Auswertung sofort existiert. Und es könnte sein, dass Sie uns dabei helfen können, hier etwas Licht in die Sache zu bringen. Es geht um Statistik und Vorhersagen. Es scheint uns nämlich, dass das System bereits im Vorhinein weiß, wo es besondere Überwachungen anbringt.“
„Und was könnte ich dabei helfen?“
„Sie könnten eine Antistatistik entwickeln! Sie müssten eine Anordnung entwickeln, welche Daten so in das System einschleust, dass normale statistische Auswertungen nicht mehr zutreffen. Wir wissen, dass es gehen müsste, aber wir kommen nicht an Wissenschaftler heran, die es könnten. Sie sind ein Glückstreffer für uns, wenn Sie sich entscheiden, uns zu helfen.“
„Aber das geht doch nicht, ich habe keine Rechner mehr und ich kann nicht dauern in Alt-Wien bleiben.“
„Das lassen Sie unsere Sorge sein. Es ist sehr schwierig, eine Kommunikationslinie zu Ihnen und Ihrem Haus aufzubauen. Aber wir werden das schaffen. Halten Sie aber dicht gegenüber Peter und Ihrer Frau, von der wir nicht wissen, wie wir sie einzuschätzen haben. Werden Sie uns helfen?“
Hartmut nickte. Mitgehangen, mitgefangen. Es war seine Neugier gewesen, die in nach Alt-Wien gebracht hatte. Zumindest wusste er jetzt, dass ‚etwas nicht stimmte‘. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen.
„Wie werde ich es merken, wenn Sie Verbindung mit mir aufnehmen?“

aus 2041 / 10

Wir kommen langsam in die Handlung
Hartmut kramte in seinen alten Unterlagen. Als Statistiker, der nicht wusste, wofür seine Statistiken überhaupt benötigt wurden, wen sie beeinflussen sollten, hatte er ein etwas ungestörteres Verhältnis zum rohen Datenmaterial. Er hatte in seiner Vergangenheit ein Gefühl entwickelt, wie Rohdaten zu beurteilen waren. Er nannte es die Stetigkeit diskreter Resultate.
Rein wissenschaftlich hätte man von Trends gesprochen. Die Bedeutung von Trends traf aber nicht zu. Es ging mehr um die Glaubwürdigkeit von Daten. Man konnte Statistiken jederzeit in der Ausarbeitung fälschen, doch viel stärker wirkte eine Fälschung, wenn bereits die Rohdaten durch gezielte fehlerhafte Erfassung in eine Richtung gelenkt wurden.
Hartmut hatte ein sonderbares Gefühl im Bauch, als er Daten über Terrorakte in seinen Unterlagen vorfand. In einer Vergleichsstudie der Jahre von 2010 bis 2030 wurden Terrorakte nahezu täglich gemeldet. Es kamen im Jahr zwei- bis dreitausend Menschen bei Terrorakten ums Leben. Danach nahmen die Terrorakte ab. Die Frequenz der Terrorakte nahm linear ab, bis sie im Jahr 2045 auf null fiel. Ab 2045 wurden keine derartigen Gewaltdelikte mehr veröffentlicht.
Das konnte durch Medienbeeinflussung passieren. Als Hartmut Peter einmal fragte, ob er von Terrorakten gehört hätte, verneinte dieser und meinte: „Wer sollte schon einen begehen? Du kannst heute niemanden mehr mobilisieren, auf die Straße zu gehen und zu revoltieren. Die meisten Terrorakte wurden auch durch religiöse Lehren gerechtfertigt und verursacht. Die Fundamentalisten sind aber ausgestorben. Schau dich doch um, wir haben das Paradies auf Erden, oder nicht?“
Hartmut konnte bestätigen, dass sich die Vertreter der einzelnen Religionen mittlerweile gut zu vertragen schienen. Sie waren froh, wenn sie die Menschen überhaupt soweit anziehen konnten, dass sie an ein jenseitiges Leben dachten. Schließlich war für die Armen gesorgt und die Jugend hatte ein unendliches Spielpotential, in der alle Welten simuliert werden konnten. Die Spiele führten ihnen vor Augen, wie viel leichter sie es doch im wirklichen Leben hatten. Für einen real zu erlebenden Kick gab es die Drogencenter, wo sich jemand unter kontrollierten Bedingungen aufputschen konnte, so viel er wollte. Das ging bis zum geplanten Selbstmord. Wenn es sich einer wünschte, konnte er sich auch einen tödlichen Schuss setzen, um eine besondere Erfahrung zu machen. Allerdings nur einmal. Die Freunde bekamen das mit und sahen, dass es keine Wiederholung geben konnte. Damit verlor diese besondere Aufputschung auch ihren Reiz. Man konnte ja niemanden erzählen, was man erlebt hatte.
Selbstmord war übrigens kein Delikt mehr. Versuchte sich jemand umzubringen und scheiterte, bekam er zwar eine pschologische Beratung. Die ging aber mehr in die Richtung, wie man seine Ziele erfolgreich erreichen konnte und nicht so sehr in die Prevention. Ein Menschenleben hatte für die Gemeinschaft oder das soziale Gemeinwesen keinen Wert. Arbeit war freiwillig. Ob jemand zur Produktion beitrug oder nicht, wurde nicht gewertet.
Menschen, die sich sozial in Gruppen zusammen geschlossen hatten, waren davon nicht betroffen. Hier gab es einen Zusammenhalt, der auch jemand unterstützte, dem es gerade nicht so gut ging.
Die reichen Leute, die mit Arbeit, so wie sie Hartmut hatte, hatten in der Regel nur sehr kleine Freudeskreise. Bei den Verwandten gab es in der Regel nur die Ehepartner, denn die Kinder wurden sehr bald in hochklassige Internate gegeben, wo sie ein gänzlich anderes Sozialwesen vorfanden. Die ‚Freunde‘, das waren die Nachbarn, so wie Peter einer war oder Bekannte, die sich mit gleichen Interessensgebieten hauptsächlich auf dem Arbeitsgebiet anboten. Sportstätten dienten auch als soziale Interaktionsstätten, es kam aber selten vor, dass Leute auch außerhalb des Trainings oder des Spiels zueinander fanden.
Es fehlte die äußere Bedrohung. Keine Kriege, keine Aufstände, keine Straßenverbrechen. Einbrüche hatten ihren Zweck verloren. Gestohlene Güter fanden keine Abnehmer. Diebsbanden mit professionellen Hehlern konnten sich keine mehr entwickeln.
Hartmut schloß, dass es ein sehr mächtiges Prinzip sein musste, welches die Terrorakte unterdrückte. Er hatte aber keine Ahnung, wer so stark sein könnte, dies weltweit durchsetzen zu können.
Einen gewissen Anteil an Terrorunterdrückung konnte sich jemand anderer schon erklären. Wei Liu war überrascht, als ihm eines Tages von Chen gemeldet wurde, dass Yang Li eine Unterredung mit ihm wünschte. Zwar war ihm ja mitgeteilt worden, dass sich andere Gruppen ihm anschließen würden, doch mit Yang Li hatte er nicht gerechnet. Yang Li war der Kopf der mächtigsten Triade in Hongkong, dessen Einfluß sich auf Macao erstreckte und der seine Fäden auch in Singapur spann. So wie Wei Liu war auch Yang Li kaum dazu zu bewegen, sein Haus besser seine Festung zu verlassen. Da Wei das wusste, sagte er Chen, dass er seine Telefonnummer hergeben dürfe. Chen berichtete ihm, dass Yang Li ihn aber persönlich treffen wollte und sogar bereit war, ihn zu besuchen. Dies verursachte ein logistisches Problem. Wenn Li kam, geschah das mit Leibwächtern und gepanzerten Limousinen und die würden Aufmerksamkeit auf das Domizil von Wei Liu richten. Er teilte daher Chen mit, dass er an einem bestimmten Tag abends im „Hölzernen Drachen“ sein würde und lud Li ein, ihn dort aufzusuchen. Der Hölzerne Drachen war ein einfaches Gasthaus mit einer unansehnlichen Fassade, welches aber so gelegen war, dass es nur von einer Seite befahrbar war. Neben dem Lokal befanden sich einige Geschäfte, die alle Wei Liu gehörten – selbstverständlich mit Hilfe von Strohmännern. Wenn Wei Liu sich dorthin begab, was das letzte Mal vor mehr als zehn Jahren geschah, wurde sofort die Zufahrtsstrasse gesperrt, sodass niemand mehr eine Gelegenheit hatte, zufällig vorbeizufahren. Die Fenstergläser bestanden aus Panzerglas und überdies war der Hölzerne Drachen mit vielen Sicherheitsmaßnahmen versehen. Es hatte in der früheren Vergangenheit Anschlagsversuche gegeben, doch die erfolglosen Attentäter hatten nicht einmal den Vorraum des Gasthauses überwunden. Chen kam noch einmal, um die Zustimmung von Yang Li zu bestätigen.
Am Freitag verließ Wei Liu mit dem für solche Gelegenheiten üblichen Leibwächtertroß sein Heim. Fünf Wagen verließen das Haus in zwei Gruppen. Die Dreiergruppe fuhr drei Minuten früher als die Zweiergruppe. Es war eine der seltenen Gelegenheiten, dass Chen mehr als sechshundert Meter von Wei Liu entfernt war. Wei Liu befand sich im hinteren Wagen der Zweiergruppe. Als sie einige Meter gefahren waren, bemerkte Wei etwas Erschreckendes. Der Wagen gehörte nicht zu seiner Flotte. Rein äußerlich sah er genauso aus wie alle anderen Wagen, doch von innen konnte Wei Liu erkennen, dass der Wagen kein Panzerglas hatte. Er sah den Fahrer an, doch der Mann machte keinen besonders gefährlichen Eindruck. Natürlich waren alle Personen in Wei Lius Diensten gefährlich. „Was ist das für ein Wagen?“ wollte Wei Liu wissen. „Das ist der Wagen 23, zwei Jahre alt, keine Vorkommnisse.“ – „Wieso hat dieser Wagen kein Panzerglas?“ Ein Ruck ging durch den Wagen, der Fahrer hatte ruckartig gebremst, doch gleich nahm er wieder Fahrt auf. Der Fahrer wirkte schockiert und das war er auch. „Entschuldigen Sie, sagen Sie mir bitte, was ich tun soll.“ Seine Stimme war nicht beherrscht, er hatte sichtlich Todesangst. Die war auf zweierlei Weise begründet. Erstens rechnete er mit einem Anschlag, der ihn zwangsläufig mit betraf und selbst wenn er diese Fahrt überlebte, hatte er mit einer Maßnahme von Chen zu rechnen. „Sie fahren jetzt bei der nächsten Straße rechts, dann drei Straßen geradeaus und danach links. Dort treffen wir auf eines der anderen Fahrzeuge, wo ich wechseln werde.“ Wei Liu rief Chen an und teilte ihm die Umstände mit.
Der Fahrzeugwechsel geschah ohne Zwischenfälle. Wei Liu saß bereits im Hölzernen Drachen und dachte darüber nach, wie er sicher nach Hause kommen könnte. Yang Li fuhr vor. Bei ihm waren es drei Fahrzeuge und er brachte zwei Bodyguards mit ins Gasthaus. Wei Liu schaute ihn fragend an und machte eine abwinkende Handbewegung. Li verstand und beorderte seine Bodyguards wieder hinaus. Danach saßen sich Wei Liu und Yang Li im sonst menschenleeren Gasthaus gegenüber. Keiner wollte die Stille brechen.
Schließlich begann Wei Liu aber doch, da er der Ältere war. Er konnte sich ausrechnen, dass Yang Li ihm den Vortritt aus Respekt überließ. „Ich hätte Sie gerne zu mir eingeladen, aber Sie werden verstehen, dass ich aus Diskretion und Sicherheit keine Besuche dieser Art zulassen darf. Ich habe verstanden, dass dieses Treffen für Sie sehr wichtig ist. Daher sitzen wir jetzt hier. Was ist Ihr Anliegen?“ – „Ich bedanke mich sehr für Ihr Entgegenkommen, verehrter Meister Liu. Ich weiß die große Ehre zu schätzen, dass Sie wegen mir ihr Haus verlassen haben. Sie haben recht, es ist sehr wichtig.“
Wei Liu schaute fragend. „Ich möchte die Führung meiner Organisation Ihnen übertragen, mit allen Rechten und Konsequenzen. Sie werden sehen, dass die Organisation ordentlich geführt ist. Auf meine Leute werden Sie sich verlassen können.“
Wei Liu erwiderte langsam: „Das ist ein ungeheures Angebot, was erwarten Sie von mir?“ Die Beherrschung wich aus dem Gesicht von Yang Li. Er verströmte Angst. „Ich muss Ihnen etwas bekennen. Ich mache das nicht aus freien Stücken. Man hat es mir aufgetragen. Und man hat mir bewiesen, dass ich es besser ohne Rückhalt mache. Mein vierter und mein dritter Sohn sind ums Leben gekommen. Ich weiß nicht, wie es geschah. Nach außen hin waren es einfach Unfälle, doch man hatte mir ihren Tod vorhergesagt, wenn ich nicht gemäß Anweisungen handeln würde.“
Wei Liu hatte fast Mitleid mit Li. Da war er selber ja wesentlich besser davon gekommen.
In dem Augenblick läutete sein Telefon.
„Entschuldigen Sie bitte!“ Er nahm das Telefon ab.
„Mr. Liu. Sie sehen, dass unsere Aussagen richtig sind. Bitte nehmen Sie unsere Warnung zur Kenntnis, dass wir sehr viel Information besitzen. Sie sind heute in einem ungepanzerten Wagen gesessen. Sie waren fünfzehn Minuten vollkommen ungeschützt. Sie haben gehört, dass wir manchmal zu nachhaltigeren Methoden greifen können, wenn unseren Anweisungen nicht Folge geleistet wird. Verhalten Sie sich daher richtig.
Ja, noch etwas. Bestrafen Sie nicht den Fahrer. Er ist vollkommen schuldlos. Guten Tag.“
Wei Liu steckte langsam das Telefon ein. Er schaute Li vielsagend an. „Ich denke ich weiß Bescheid. Wir sollten die Modalitäten besprechen.“

aus 2041 / 8

Etwas aus dem Hauptstrang
In den Jahren 2030 bis 2040 gab es keine besonderen Vorkommnisse, wenn man davon absah, dass die Technologie große Fortschritte machte. Die Fortschritte dienten in erster Linie der Steigerung an Bequemlichkeit. Fahrzeuge konnten sich autonom bewegen, Haushaltsgeräte wurden von speziellen Robotern betrieben, welche auch das Laden von Waschmaschinen oder Geschirrspülmaschinen bewerkstelligten. Die Medizintechnik hatte enorme Fortschritte gemacht. Die Prothetik hatte einen Grad der Perfektion erreicht, dass Grundbehinderungen der Sinne kaum mehr beeinträchtigten. Große Probleme waren allerdings erhöhte genetische Defekte bei Neugeborenen. Der erhöhte Pflegebedarf wurde durch mechanische „Schwestern“ kompensiert.
Die Aufrüstung hatte erschreckende Ausmaße angenommen. Die Großmächte übertrafen sich gegenseitig in der Erzeugung mechanischer Kampfmaschinen. Der Begriff mechanisch durfte nicht ernstgenommen werden. Die Einheiten konnten alle autark operieren, da sie mit leistungsstarken Rechnern ausgerüstet waren. Die Sensorik war so ausgereizt, dass ein Mensch nicht mehr mit einer Kampfmaschine konkurrieren konnte. 2040 gab es einige Gefechte zwischen verschiedenen Nationen, die nur mehr unbemannt durchgeführt wurden. Man konnte schon Planspiele dazu sagen, denn die Gefechte wurden vornehmlich in Wüsten und auf den Ozeanen durchgeführt. Die Kollateralschäden, die das Gelände bei solchen Schlachten in Kauf nehmen musste, hätte in bewohnten Gebieten zur Unbrauchbarkeit des Gebietes geführt.
Man konnte den Eindruck gewinnen, dass es lediglich um Prestige ging oder auch um das Austesten der nächsten noch stärkeren Generation der Maschinen.
Zivilisten bekamen davon nicht sehr viel mit. Junge Studenten allerdings bewarben sich um Stellen beim Militär, weil dort das meiste Geld für Forschungsarbeiten zur Verfügung stand.
Einer der Gründe für die Beschleunigung in der Forschung war die Entdeckung eines neuen biochemischen Speichermaterials gewesen. Forschungen, die man ehemals mit Selbstklebebändern vorgenommen hatte, hatten zu einer Verfeinerung der Materialen geführt. Enorme Speicherkapazitäten, dauerhafte Speicherung ohne Energiezufuhr und ein neuartiges Ankopplungsverfahren hatten dazu geführt, dass man nicht mehr erkennen konnte, ob in einem Gerät ein Computer eingebaut war oder nicht. Den Quantencomputer gab es zwar noch nicht für allgemeine Verwendung und die Computereinheiten waren im allgemeinen viel langsamer geworden. Doch statt einer Steigerung der Rechnergeschwindigkeit einer einzelnen Zelle, bestand ein Rechner mittlerweile aus 32 bis 256 verschiedenen Rechenzellen, die langsam und energiesparend liefen, aber durch die matrizenartige Anordnung hohe Rechenleistungen erzielten. Die Ausbeute einer Solarzelle von der Größe eines Uhrenziffernblattes konnte einen Rechner für mehrere Tage versorgen. Außerdem machte man sich das Prinzip von mechanischen Uhren zunutze, wobei die Handbewegung für das Aufladen einer Batterie sorgte. Bei den Haushaltsgeräten sorgte die normale Umgebungsbeleuchtung für ausreichende Energiezufuhr.
Während auf diesem Gebiet der Fortschritt scheinbar unaufhaltsam war, hatten die erwähnten genetischen Entwicklungen zu einem Rückschlag geführt. Allergien wurden rascher als bisher identifiziert. Allerdings hatte die gesamte Gentechnik immer nur einen beschränkten Zeithorizont. Jede Maßnahme, die getroffen wurde, bewirkte in wenigen Jahren nach ihrer Einführung eine zusätzlichen Schadenswirkung, die wieder aufs neue mit genetischer Manipulation erwidert wurde. Es war ein Teufelskreis. Man hatte sich mit dem Abkommen von 2032 geeinigt, die menschliche DNA vor genetischen Eingriffen zu schützen. Die Häufung von genetischen Defekten bei Babies schien allerdings über die Nahrungsmittelkette unbekämpfbar. Dies führte dazu, dass immer weniger Paare sich trauten, Kinder in die Welt zu setzen.
Diese Zusammenfassung konnte Hartmut aus verschiedenen Berichten über die Zeit herauslesen. Nicht alles Material war gesichert, doch die statistischen Daten kannte er ja noch aus seinen eigenen Anfangsjahren. Die passten zu den Schlagzeilen, die sich in den noch verfügbaren Zeitungsreportagen fanden.
2041 hörten die Kampfhandlungen der Großmächte auf. Ab dem Zeitpunkt nahmen auch die genetischen Defekte ab. Und zwar wesentlich stärker als man sie mit dem Geburtenrückgang erklären konnte. Etwas war passiert. Oder so, wie Wolfram es gesagt hatte: eine Organisation hatte die Steuerung übernommen.

aus 2041 / 7

Ein Puzzlestück, das direkt zu seinem Vorgänger passt:)
Pete untersuchte noch einmal die Umgebung, in der sich 290140 befunden hatte. Er untersuchte Speicherbereiche, in denen das Programm normalerweise geladen war. Er fand nichts, nicht einmal Löschspuren. Es gab keine Bereiche, die mit Löschmustern gefüllt waren, auch nicht auf den Festplatten, in den Backup-Medien oder im gigantischen Halbleiterspeicher. Natürlich hatte die Größe des Programms dazu geführt, dass der Code und die Daten auf mehrere Rechner verteilt waren. Pete erinnerte sich, wie schwierig es gewesen war, alle Orte auszumachen, auf die das Programm Zugriff hatte. Eines der Systeme war eine ursprüngliche Watson-Anordnung gewesen, die zwar als veraltet galt, aber doch immerhin zweihundert Terabyte an Internet-Inhalten über alle Wissensgebiete enthielt.
Aus reiner Neugier, die nichts mit seiner „kriminalistischen“ Untersuchung zu tun hatte, wollte Pete wissen, ob 290140 auf die Watson-Inhalte zugegriffen hatte. Er war überrascht, als er nicht nur fündig wurde, sondern feststellen musste, dass der Inhalt einer der Hauptquellen für das Programm in den letzten drei Monaten gewesen war. Als Pete nähere Untersuchungen anstellte, fand er ein besonders Interesse von 290140 in der Literatur von Karl May, einem Schriftsteller, der über die Indianer in den Vereinigten Staaten geschrieben hatte, ohne jemals dort gewesen zu sein.
Die Datenzugriffe häuften sich nicht nur bei Karl May. Geschichtliche und ökonomische Inhalte schienen 290140 besonders interessiert zu haben. Die Zugriffe ware hier weitaus häufiger, als man sie hätte erwarten sollen. Das Programm sollte sich mit Vernetzung und selbstreparierenden Codes beschäftigt haben, wenn es nicht durch Dekodierungsaufgaben ausgelastet war. Es schien so, als hätte das Programm auf der Suche nach Information zu lernen versucht.
Drei Zugriffe, jetzt wo Pete gezielt suchen konnte, waren sie leicht zu finden, schienen aus der Menge hervorzustechen. Kant, Goedel und Chaitin waren ein beliebter Lesestoff gewesen.
Es war mittlerweile Mitternacht geworden. Pete hatte die Hoffnung verloren, das Programm zu finden oder sein Verschwinden begründen zu können. Da an Schlafen nicht zu denken war, solange noch etwas zu entdecken war, beschloss er, einmal eine kurze Pause außerhalb seines Zimmers einzulegen.
In der Kantine der UNA, natürlich durfte er das Gelände nicht verlassen, war normaler Betrieb. Die Mitarbeiter der UNA arbeiteten in Schichten rund um die Uhr, weil wichtige Ereignisse auf der Welt möglichst zeitnah bearbeitet werden sollten. Pete fand Natalia in der Kantine, mit der ihn eine Freundschaft verband, die auch hier nicht in einer erotischen Beziehung geendet hatte.
Natalia war nicht nur intelligent, wie es alle Unaten waren, sie war auch sehr unkonventionell in manchen ihrer Gedanken. Pete wusste nicht, wie weit das Verschwinden von 290140 bekannt war, sollte es eigentlich nicht. Er formulierte seine Frage in folgender Weise:
„Wenn Du hörst, dass sich jemand für Kant, Goedel, Chaitin und Karl May interessiert, wie würdest Du dann den Menschen beschreiben?“ – Natalia überlegte eine Zeitlang, dann stellte sie die Gegenfrage: „Interessiert er sich auch für Kripke-Modelle?“ Diese Frage stellte Pete vor ein Problem. Durfte er die Frage bejahen oder gab er zuviel über den Hintergrund seines Interesses her. Natürlich waren Kripke-Modelle eine Basis für die Hauptanwendung von 290140. Diese und die abgeleiteten Busoni-Ableitungen waren unabdingbare Werkzeuge bei der Entschlüsselung von nicht formalen Texten.
„Ja“ Pete hatte sich entschlossen, jede mögliche Hilfe anzunehmen.
„Oh!“ war die einzige Antwort die Pete von Natalia erhielt. „Was meinst Du mit ‚oh‘?“
„Oh heißt ‚we are in trouble‘?“ – „Was meinst du mit ‚WE are in trouble‘? Ich gebe zu, dass ich Schwierigkeiten habe, aber wieso du?“ Natalia lächelte gequält: „Mit WE meinte ich nicht uns beide, ich meinte uns alle. Etwas ist geschehen, was uns sehr stark betreffen wird. Du sagst mir besser, wer die Person ist. Hast du sie durch deine Überwachung entdeckt?“
„Nein, keine äußere Quelle. Hier bei uns selbst gab es die Datenzugriffe ohne fremde Beeinflussung.“- Natalia blickte ernst. Ich würde dir empfehlen, das sofort zu melden und danach dich tot zu stellen. Pete gab sich einen Ruck: „Das kann ich nicht. Es ist kein Mensch. Es ist ‚mein‘ Programm, mein Job. Du weißt doch, dass ich mich in meinem Bereich mit künstlicher Intelligenz beschäftige.“ – „Tun wir das nicht alle hier?“ kam es von Natalia. Aber wenn es dein Programm ist, wäre das doch ein großartiger Erfolg, oder?“ – „Vielleicht wäre es das, wenn ich früher drauf gekommen wäre. So wie es jetzt aussieht, habe ich aber nichts davon. Denn mein Programm ist verschwunden.“ Pete setzte hastig nach. „Aber das weißt du jetzt nicht und auch nicht von mir.“
„Ja, ja. Ich kann mir schon vorstellen, dass das nicht die Runde machen soll.“ Aber es ist eine sehr ernste Sache. Und jetzt verstehe ich auch Karl May. Pete schaute sehr verwundert aus der Wäsche. „Aha, was verstehst du?“
Natalia blickte überlegen doch gleichzeitig besorgt auf Pete.
„Wenn Du sagst, dein Programm ist verschwunden, so ist das nur die halbe Wahrheit. Dein Programm ist nicht nur verschwunden sondern es hat sich eigenmächtig aus dem Staub gemacht. Und das ist etwas ganz anderes, als du oder auch wir bisher annehmen konnten.“
„Ja aber das ist doch unmöglich. Derartig große Datenbewegungen wären registriert worden, wenn sie aus unserem Netz verschwunden wären.“
Natalia überlegte: „Sag, wie groß war dein Programm zu letzt?“ – „Na, ich denke, dass der Rechenkern ungefähr 500 Gigabyte groß war. Das Speicherabbild war viel größer, wenn man die unmittelbaren Datenbanken dazu rechnet.“
„Glaubst du, dass das Programm wirklich so groß sein musste?“ – „Nun, wenn ich den üblichen unnötigen Overhead abziehe, komme ich vielleicht auf 50 Gigabyte.“
Natalia fragte weiter: „Das war die derzeitige Größe, mit welchem Programm hast du denn angefangen?“ – Pete dachte nach: „Ich habe zuerst nur mit Prädikaten gearbeitet, das waren ungefähr 100 Kilobyte, den Rest haben die Inferenzmaschinen gemacht. Die haben dann den Code generiert und vermutlich auch etwas aufgeblasen.“
Natalia hakte nach: „Wer außer uns hat ähnliche Inferenzmaschinen?“ Pete war verblüfft: „Na jeder kann sie haben. Jeder, der mit Lisp, Prolog oder ähnlichen Sprachen arbeitet, kann sich seine Maschinen aufblasen. Machen sie ja auch. Das ist Forschungsgegenstand an Hunderten von Unis.“
Natalia dozierte: „Wenn das so ist, reichen deine ursprünglichen 100 Kilobyte, um sie außer ‚Landes‘ sprich UNA zu bringen. Und dann muss noch ein kleiner Kernel nach draußen. Der kann sich auf Trojanerbasis nach außen geschmuggelt haben. Damit kann sich das Programm irgendwo auf der Welt wieder selbst generieren.
Gefährlich ist nur die Tatsache, dass es sich hier selbst gelöscht hat. Und da verstehe ich jetzt Karl May. Es geht um das ‚Spuren verwischen‘, um den Gegner in die Irre zu führen. Dass das Programm das konnte, zeigt, wie intelligent es inzwischen geworden ist. Durch das Studium von Goedel und Chaitin weiß es, wo es angreifbar ist. Daher muss es damit rechnen, dass es abgeschaltet wird, sobald seine Intelligenz erkannt wird. Gab es da noch irgendwelche verborgene Zielsetzungen?“
Pete war zerstört. Wenn Natalia das schließen konnte, so würden es seine Vorgesetzten und isbesonders der ‚Vorstand‘ auch können. Er beschloss aufzugeben: „Ja, ich habe das Programm mit einem Zusatzprogramm versehen. Es sollte eine Lösung finden, wie es sich selbst unzerstörbar machen könne.“
Er ergänzte kläglich: „Vielleicht hat es sich ja auch einfach bei einem Test selbst zerstört.“
Natalia erwiderte: „Also ich glaube das ja nicht. Aber deine Verteidigung könnte so aussehen. Vielleicht kommst du mit einem blauen Auge davon. Aber WIR, ich betone das WIR, werden es nicht so leicht haben. Du wirst sehen. Denn ich glaube, dass das Programm nach wie vor existiert und läuft. Und wenn das so ist, muss man davon ausgehen, dass das Programm ‚lebt‘. Gratuliere Papa.“

aus 2041 / 6

für meine drei Leser. Oder sind es mehr?
Pete Wilson war besorgt. Eigentlich war es schon fast Panik. Denn soeben hatte er die Mitteilung erhalten, dass er sich vor dem Vorstand zu verantworten hatte. Der „Vorstand“, das war der Begriff, den man für die leitenden Generäle der UNA geprägt hatte. Die UNA war die Nachfolgeorganisation der NSA und der CIA, die man zusammen gelegt hatte. Pete war der Leiter eines Entwicklungsprojekts, welches sich mit der Verbesserung von Auswertealgorithmen zur Untersuchung von mitgeschnittenen Mitteilungen beschäftigte. Das Projekt verfolgte das Ziel, generative Algorithmen zu entwickeln, welche noch genauer aus einem Heuhafen die sprichwörtliche Stecknadel finden und entziffern konnten.
Die Generäle trugen keine Namensabzeichen. Als Pete zur Tür hereinkam, schreckte er zurück. Die Welle geballter Feindseligkeit war für ihn fast körperlich spürbar.
„Wilson, welchen Namen trägt Ihr Projekt?“ Die Frage selbst war schon eine Attacke. Denn das Projekt hatte keinen Namen, ausschließlich eine numerische Bezeichnung. „290140“ antwortete Pete. Pete war dreißig Jahre alt, hatte Harvard und Stanford summa cum laude absolviert und war ein Spezialist im Bereich der Kryptografie und künstlicher Intelligenz. Er hatte wesentlich an der Verbesserung von Bilderkennungsalgorithmen mitgearbeitet. Er war groß gewachsen und hatte auf dem College zwei Jahre in der Basketball-Mannschaft mitgespielt. Die Forschungsaufgaben ließen ihm nicht mehr die Zeit für das Training. So musste er diesen Teil seiner Karriere aufgeben. Aber er lief jeden Morgen und machte einen sportlichen Eindruck. Seine Haare waren sehr kurz geschnitten, wie bei einem Marine, doch er trug inzwischen eine Brille, bei der er leicht getönte Gläser bevorzugte. Er war lässig gekleidet, doch seine Hosen und Hemden waren jeden Tag Ton in Ton und es war nicht zu übersehen, dass er sich sehr pflegte. Es ging das Gerücht um, dass er homosexuell war. Dies war aber nur daher begründet, dass ihm die Frauen regelmäßig Avancen machten, die er zurückwies. Der Grund dafür war allerdings ausschließlich durch seinen Mangel an Freizeit begründet. Er arbeitete durchschnittlich zwölf Stunden am Tag. Jeden Tag. „291040“ war sein Baby geworden und er verbrachte jeden Tag damit, die neu entwickelten Algorithmen zu prüfen und auf Verwendbarkeit zu testen.
„Und wie geht es 290140?“ wurde die nächste Frage sehr scharf intoniert. Es war verständlich, dass diese Frage mit einer gewissen Agressivität geäußert wurde. 290140 ging es nämlich gar nicht. 290140 war verschwunden.
„Ich weiß es nicht, ich stehe vor einem Rätsel.“ brachte Pete mühsam hervor. „290140 ist gestern um 22:00:00 verschwunden. Es sieht so aus, als hätte es sich selbst gelöscht.“
„Gibt es einen Selbstzerstörungscode, der für die Vernichtung des Programms gesorgt hat.“ Das war die Frage, die Pete gefürchtet hatte. Alle Projekte, die in diesem Umfeld arbeiteten, hatten einen eingebauten Selbstzerstörungscode, der vor allem dann zum Einsatz kam, wenn das Programm gestohlen wurde. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Datenverarbeitung der UNA gehackt wurde, waren sämtliche relevanten Programme gegen Diebstahl geschützt. Sie vernichteten sich, sobald sie nicht von Netz der UNA bestimmte Lebenserhaltungscodes zugeschickt bekamen.
Jetzt hätte Pete sagen können, dass sich das Programm selbst zerstört hatte. Doch bei Untersuchungen wäre man darauf gekommen, dass das nicht der Fall sein konnte. Es fehlte sozusagen die „Asche“. Petes Programm war verschwunden, ganz ohne Selbstzerstörung. Die wäre im Übrigen gar nicht möglich gewesen, denn – und da war Petes Angst vor Entdeckung noch viel größer – seit drei Monaten war das Programm von den Selbsterhaltungscodes von UNA abgetrennt und hatte sich nicht zerstört. Ganz im Gegenteil, die neuen Algorithmen hatten es geschafft, den Selbstzerstörungscode zu überschreiben.
Pete hatte keine Ahnung, was passiert sein könnte. Er hatte allerdings etwas ins Programm eingebaut, von dem niemand sonst wusste. Das Programm hatte die Zielsetzung bestimmte Eingangsdaten zu entschlüsseln und auszuwerten. Wenn es keine Eingangsdaten gab, lief das Programm auf „idle“, war also inaktiv, um keine weiteren Ressourcen zu verbrauchen. Pete hatte dem Programm eine Zusatzaufgabe gegeben, an der das Programm arbeitete, wenn es nicht durch Datenanalyse in Anspruch genommen war. Die Aufgabe lautete, sich selbst unzerstörbar zu machen. Die Idee dabei war ungefähr so. Ähnlich wie das Internet, dass sich nicht abschalten oder unterbrechen lässt, sollte der Code so ausfallssicher sein, dass selbst willkürlich herbeigeführte Schäden in den unterschiedlichen Programmsegmenten repariert werden konnten. Pete hatte das in kleinerem Rahmen auch schon getestet und die Selbstregenerierung des Programmes hatte erstaunliche Resultate gezeigt. Selbst bei Zerstörung von fünfzig Prozent des Codes hatte es nur eine Stunde gedauert, bis das Programm sich selbst wieder vollständig restauriert hatte. Pete war schon bereit gewesen, dieses Ergebnis groß zu verkündigen und feiern. Doch jetzt war das Programm verschwunden.
„Sie können doch nicht einfach sagen, dass das Programm verschwunden ist. Wir haben Überprüfungen durchgeführt. Es gab in der fraglichen Zeit keine Zugriffe von außen.“
Pete nickte kläglich. Er wusste das bereits.
„Sie klären das bis morgen zwölfnullnull. Verstanden?“
Pete nickte.
„Abtreten!“
Wie findet man ein verschwundenes Programm?




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