Über das Verstehen

Es gibt einen Tenor in der heutigen Zeit, der wie ein Mantra das Leben in der Gegenwart propagiert. Nicht alle hören ihn oder wollen ihn beherzigen, auch ich selbst sehe das gesamte Leben als integralen Bestandteil von etwas Größerem. Mir sind meine Erinnerungen lieb und wert, selbst aus den schlechten lassen sich Erfahrungen und das Vermeiden künftiger Fehler ableiten. In der Regel wird dem Langzeitgedächtnis hierbei eine sehr große Genauigkeit zugemessen. Von der bin ich nicht so überzeugt, denn zumindest ich neige dazu, die unangenehmen Erinnerungen zu vergessen oder Details davon zu unterdrücken, während angenehme Ereignisse eher noch verbrämt und ausgeschmückt erscheinen.
Heute habe ich eine sehr interessante Erkenntnis über das Alter festgestellt. Nichts besonderes, sie ist schließlich bereits Forschungsgegenstand. Fluide und kristallisierte Intelligenz, unter diesem Stichwort befindet sich bereits in Wikipedia eine recht gute Zusammenfassung der unterschiedlichsten Lehrmeinungen. Ist man interessiert, gibt es bereits genügend Bücher, die sich vor allem hinsichtlich Pädagogik mit dem Thema befassen.
Meine Erkenntnis betrifft die plötzlich erscheinende Klarheit über meine eigene – in diesem Fall – kristallisierte Intelligenz. Der Anlass war das Ansehen des Filmes La Strada, den ich seit vierundvierzig Jahren nicht mehr gesehen hatte.
La Strada war für mich ein besonderer Film, er war der erste, den ich je im Fernsehen gesehen hatte. Meine Eltern hatten keinen Fernseher, wofür ich ihnen heute dankbar bin, obwohl ich damals sehr bedauerte, in den Schule nicht über den neuesten Maigret mitreden zu können. Einmal waren meine Eltern bei einem Arbeitskollegen meines Vaters eingeladen, der zufälligerweise wie die Hauptfigur der Strudelhofstiege hieß, nämlich Melzer. Bei Melzers gab es also ein Abendbrot und danach wurde fern gesehen. Zufällig lief gerade der Film La Strada. Der Film machte auf mich sechzehnjährigen einen sehr großen Eindruck. Obwohl, wie ich heute feststellen konnte, ganz wesentliche Inhalte und Szenen an mir vorbeigingen, war ich überzeugt davon, dass es sich um einen großartigen Film handeln musste. Doch während ich mich an einige Details ganz genau erinnern konnte und noch kann, z.B. den versuchten Diebstahl im Kloster oder die Szene des Abschieds von der Mutter, hatte ich einen Tatbestand vollkommen verquer gespeichert. Bis heute glaubte ich nämlich, dass Zampano vor Gelsomina starb und nicht nicht umgekehrt. Jetzt ist dies aufgrund des Filmverlaufs eine derartig unwahrscheinliche, ja sogar unmögliche Interpretation, dass ich mich wundere, warum sich das bei mir in der Erinnerung so eingenistet hat. War es Wunschdenken? Ich hatte auch schon damals nicht verstanden, warum sie als so häßlich bezeichnet wurde. Für mich bleibt sie damals und heute schön. Eine andere Art von Schönheit, aber doch eine, die von innen heraus leuchtet.
Was allerdings neben dem Umstand der vollkommen falschen Erinnerung noch stärker wirkt, ist die Erkenntnis, dass ich damals eigentlich nichts verstanden haben konnte. Jede einzelne Szene analysiere ich jetzt hinsichtlich Motivation im Film und in der Verwendung der dramatischen Wendungen. Ich weiß, dass ich damals bestimmte Anspielungen nicht verstanden hatte. Wenigstens nicht intellektuell. Vielleicht haben sie mein Unterbewusstsein wesentlich mehr berührt. Dass es ein sehr guter Film sein musste, habe ich ja erst später bewerten können, denn es war mein erster Fernsehfilm und auch im Kino hatte ich bis dahin höchstens drei Filme gesehen.
Meine Denktätigkeit ist heute eine andere. Ich denke in Mustern, in Verdichtungen, in Zusammenfassungen. Das beeinflusst auch mein Lesetempo und die sowohl die Akzeptanz als auch die Ablehnung verschiedener Bücher. Manchmal blättere ich heute in der Buchhandlung in bestimmten Ratgeberbüchern. Wie werde ich reich? Wie werde ich nicht arm? Wie erobere ich Frauen? Wie lebe ich ein glückliches Leben? Der Inhalt dieser Bücher lässt sich fast immer auf eine halbe Seite zusammen fassen. Der Rest ist nur ausfüllenden Blabla, um einen möglichen Bestseller daraus zu machen.
Was ich im Leben allerdings gelernt habe, ist die Notwendigkeit, etwas Erfasstes auch einige Zeit lang durch zu denken, zu üben, noch einmal zu üben. Verstehen heißt nicht behalten. Ich habe das früher geglaubt. Vielleicht war es auch in manchen Fällen so, dass es gereicht hat, um etwas einmal zu hören und es dann nicht nur wiedergeben sondern auch anwenden zu können.
Jetzt im Alter muss ich mich mit dem Verstandenen länger beschäftigen. Aber ich verstehe auch viel mehr.

(Dieser Eintrag weist einen Bullshit-Faktor von 0,13 auf, gemessen mit dem Blabla-Meter. Nur Einträge, die weniger als 0,15 aufweisen, stelle ich ins Blog. Vergleichswerte sind Zeit-Artikel, die in der gleichen Größenordnung rangieren und Standard-Artikel, die bis zu 0,45 aufweisen. Als Standard-Journalist würde ich mich heutzutage schämen.)


  1. boma

    bist du erstmal dement, ist das mantra der gegenwart immanent.
    wie man vorher lebte, seine vergangenheit, seine erlebnisse „gegenwärtig“ in einen denkbaren zusammmenhang bringt, ist geschmackssache, steppenhund.
    sicherlich keine besondere zeiterscheinung …

  2. Ich klammere jede Art der Behinderung in meiner Schlussfolgerung aus. Die führt zu Beschränkungen, über die ich mich keineswegs lustig machen will.
    Doch die großartige Erkenntnis von Um-die-Vierzigjährigen, dass man im Jetzt leben muss, finde ich durchaus belächelnswert.
    Und eigentlich nehme ich solche Menschen dann nicht ernst. Vor allem dann nicht, wenn sie sich um Partner umsehen. Ich weiß, dass das nicht für dich gilt.
    Ich sehe das so: wenn man gelebt hat, will man doch auch etwas davon gehabt haben. Und dazu gehört die Kontemplation über das Gelebte.

    • Meine Rede, Herr Steppenhund, meine Rede!
      Allerdings doch noch ein kleines Plädoyer fürs „im-Jetzt-leben“. Wenn man grosse Zukunftssorgen hat, kann die Konzentration auf die Annehmlichkeiten der Gegenwart sehr glücklich machen!

      • Ich habe dabei allerdings die Angst, dass man das nur dann besonders schätzt, wenn die Ängste vor der Zukunft zu groß werden. Selbstverständlich stimme ich zu, wenn die Ängste begründet sind und die frohen Zeiten quasi ein Ablaufdatum haben.
        Es ist übrigens erstaunlich, wie viele Komponisten im Alter taub wurden. Das wurde nicht nur Beethoven.
        Ich habe übrigens Sorgen, dass ich „blöd“ werde. Meine Denkprozesse laufen messbar langsamer ab. Allerdings ist das ein allgemein bekanntes Phänomen und sollte mir daher nicht zu viele Gedanken bereiten.
        Da freue ich mich auch in der Gegenwart, wenn ich die heutigen Sudokus in einer Rekordzeit schaffe. Ich ziehe die immer als Leistungsmaßstab für meine geistige Präsenz her:)

  3. boma

    das nur wenn man dem duktus der lebensleistung als gesamtes folgen will. ich habe dazu keine lust. schon seit je her hatte ich das gefühl, dass man mir das leistungsprinzip hinsichtlich eines lebenserfolges oder eines akzeptierten werdegangs per gehirnwäsche aufdrückte.
    ich lebe jetzt. und ich lebte an jedem lebenstag mehr oder weniger im jetzt. natürlich bedeutet dies, dass ich auch jetzt glücklich sterben könnte, ganz ohne besonderes in meinem leben geleistet zu haben.
    was nicht heißt, dass ich meinen werdegang gar nicht reflektiere. was nicht bedeutet, dass ich gar keine zukunftswünsche habe. doch die halten sich in grenzen.
    das jetzt ist wesentlich.

    • Man muss sich ja nicht einen akzeptieren Werdegang aufdrücken lassen.
      Möglicherweise muss man in einem Dienstleistungsberuf wie dem deinen auch aus Pragmatismus eine Haltung wie deine annehmen. Du weißt nie, ob Du „deine Kunden“ beim nächsten Dienst noch antriffst. Ich merke das auch an meiner Frau, die jetzt, wo sie in Pension ist, wesentlich stärker zukunftsorientiert denkt als zuvor.

      Die Frage bleibt aber, welchen Zeitraum man mit „jetzt“ beschreibt.

  4. boma

    jetzt ist jetzt und immer jetzt. jetzt ist der punkt, an dem wir handeln und denken – zeitlich deckungsgleich. ansonsten haben wir es mit der vergangenheit oder mit der zukunft zu tun. die vergangenheit repräsentiert ein vergangenes jetzt.
    die zukunft ein jetzt, was noch nicht eingetreten ist.
    während die vergangenheit fest liegt, ist die zukunft immer offen. selbst wenn wir sie planen, bleibt sie offen. sie manifestiert sich erst im jetzt. jetzt z.b.. als ich diese antwort begann, hatte ich nur eine ahnung von der zukunft, die nun zum jetzt wurde.
    und schon wieder vorbei …
    ziemlich sicher ist nur, dass ich in einer zukunft sterben werde, und dass die lebenstage zu meinem tod hin ständig abnehmen.
    der tod ist das einzig vorwegnehmbare jetzt.

  5. Also jetzt muss ich einen Flug buchen, der drei Monate in der Zukunft liegt, sonst wird er zu teuer. Das Jetzt zu Mitte Juli hat Planungen vorgenommen, die bis Mitte Oktober reichen. Der Plan kann jederzeit durch Unfall oder Tod oder externe Umstände korrigiert werden müssen.
    Ich bin nicht einmal so ein Plan-Heini. Doch im Kontext mit anderen Menschen, die ebenfalls Pläne haben, ist eine Absprache für die Zukunft unabdingbar.
    Wenn man es aber so radikal wie Du ausdrückt, dann gibt es das Jetzt gar nicht. Es ist nur der Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und der ist so kurz, dass er unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle liegt.
    Und jetzt „handeln und denken“. Hochachtung! jede Entscheidung in einer Sekunde, sofort ausgeführt, nächste Entscheidung usw. …
    Da sind wir offensichtlich verschieden. Ich könnte dein Leben ebensowenig führen wie Du meines.
    Wer glücklicher mit seiner Lebensführung ist? Blöde Frage. Ich suche das Glück ja nicht. Doch aus den Gedichten und den Blogeinträgen kann ich nicht entnehmen, dass Du selbst mit deinem Leben so glücklich bist. Einverstanden damit bist Du – und das ist sicherlich eine gute Ausgangsbasis.

  6. boma

    natürlich ist sich das jetzt nicht genug. das bedingen schon die bewegung und der stoffwechsel. wir sind zeitgebundene wesen, welche in eine zukunft hinein leben mit wünschen, vorstellungen und zielen. es ist die frage, wieviel wir vom jetzt darauf verwenden ein jetzt der zukunft zu planen und vorwegzunehmen. wenn wir zu rastlos unterwegs sind, verlieren wir das eigentliche jetzt. eben das jetzt.
    auch andersherum, zu sehr vergangenheitsfixiert, kann uns das passieren.
    letztlich liegt es an jedem menschen, wie er und mit was er sein jetzt ausfüllt. ich mag die tagträumerei. termine sind mir eher lästig. durch sie fühle ich mich gebunden. aber auch ich komme nicht ohne sie aus. ich versuche sie halt zu minimieren. es bleibt noch genug übrig, was ich planen und für die zukunft durchdenken muß. ich mag das jetzt einfach ohne zu viel ballast spüren. an der vergangenheit kann ich nichts mehr ändern …, und auch daran, dass ich sterben werde, ist nichts zu ändern. aber inzwischen existiere ich – und das möchte ich jetzt – ganz ungeschminkt – spüren.

  7. Mit der Aussage kann ich mich gut identifizieren. Termine sind mir auch ein Gräuel. Tatsächlich habe ich es bis auf zwei Firmen auch immer geschafft, meine Arbeitszeit selbst einzuteilen, also erst zu Mittag oder am späteren Nachmittag in die Arbeit zu kommen. Das hat für mich immer Freiheit bedeutet.




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